Rücktritt nach dem Brexit-Vote Cameron hat sich verzockt
24.06.2016, 11:17 UhrBanken, Unternehmer, Auslandsbriten - Cameron versucht, alle zu beruhigen. Dass er vor dem Rücktritt noch ein paar Wochen im Amt bleibt, dürfte dabei helfen. Die Bilanz seiner Zeit als Premierminister wird er damit aber kaum retten können.
Es ist ungefähr Viertel nach neun, als David Cameron seinen Rücktritt vom Amt des Premierministers ankündigt. Er habe die Abstimmung über die Zugehörigkeit Großbritanniens zur EU nie als eine Abstimmung über einen einzelnen Politiker wahrgenommen, sagt er, während er vor seinem Amtssitz in der Downing Street Nummer 10 steht. Doch er glaube, dass das Land für den Kurs, der nun vor ihm liegt, eine neue Führung brauche.
Cameron legt einen groben Zeitplan vor. "Ich werde das Schiff über die nächsten Wochen oder Monate steuern", versichert er. Der "Captain" werde er langfristig aber nicht mehr sein. Bis zum Beginn des Parteitags der Konservativen im Oktober solle es einen neuen Premier geben. Die Austrittsverhandlungen mit Brüssel würde sein Nachfolger übernehmen.
Cameron ist bemüht, ein Signal der Stabilität auszusenden und präsentiert sich als vorübergehender Garant dafür. Er beschwört die britische Wirtschaft, die auch dank seiner Politik wieder stark sei. Dabei dürfte er vor allem an die Finanzmärkte denken, die gerade eröffnet und mit dramatischen Kursrutschen auf die Brexit-Entscheidung reagiert haben. Er spricht auch die Briten im europäischen Ausland an, die Unternehmer, die jetzt nicht sofort Beschränkungen des Warenverkehrs zu befürchten hätten, und die britischen Arbeitskräfte in den EU-Mitgliedsstaaten. Cameron erwähnt auch Schottland und Nordirland und verspricht konstruktive Gespräche. Die Mehrheit der Nordiren und Schotten stimmte für einen Verbleib in der EU. Das Königreich droht zu zerfallen.
Dass Cameron nicht sofort hinschmeißt, sondern den Übergangsprozess zumindest symbolisch delegieren will, dürfte tatsächlich zur Stabilität beitragen. Doch es ist fraglich, ob der 49-Jährige mit diesem Schritt ernsthaft beeinflussen kann, wie er im Rückblick bewertet wird. Vieles spricht dafür, dass er als Mann in Erinnerung bleiben wird, der den Zusammenhalt Europas versehentlich gesprengt und den Bestand des Königreichs riskiert hat, weil er zu hoch gepokert hat.
"Stop banging on Europe"
Cameron hat sich diese Niederlage selbst eingebrockt. Für ihn war die Mitgliedschaft in der EU nie ein großes Thema. Er zählte zwar damals zu den Euroskeptikern. Doch als er 2005 die Führung der Tories übernahm, sagte er seinen Parteikollegen noch: "Stop banging on Europe" (Hört mit dem Gerede über Europa auf). Er versprach zwar gern, Druck auf Brüssel auszuüben, vertagte die Sache aber genauso schnell wieder. Das änderte sich erst 2013.
Der antieuropäische Flügel seiner Partei erstarkte, genauso wie die Anti-EU-Partei Ukip. Cameron brachte das Referendum ins Spiel - allerdings nicht, weil es ihm ein Anliegen war, sondern weil er das konservative Lager ruhigstellen wollte. Es ging ihm nicht um eine historische Entwicklung, sondern darum, ein kurzfristiges politisches Problem zu lösen. Und er ging davon aus, dass er sein Versprechen ohnehin nicht einlösen müsste. Umfragen legten nahe, dass seine Tories während seiner zweiten Amtszeit wieder nicht allein regieren werden könnten. Und der Koalitionspartner in spe, die Liberaldemokraten, lehnten ein Referendum strikt ab.
Als Cameron daraufhin mit einer überraschenden absoluten Mehrheit im Unterhaus im Amt bestätigt wurde, führte an dem Referendum allerdings kein Weg mehr vorbei, obwohl er selbst gegen den Brexit war. Zugleich wurde zusehends klar, dass Cameron das Versprechen, einen "besseren" Deal mit Brüssel aushandeln zu können, um den Briten einen Grund zu liefern, in der Gemeinschaft zu bleiben, nicht einlösen kann. Als das Leave-Lager mit dem prominenten ehemaligen Londoner Bürgermeister Boris Johnson als Fürsprecher plötzlich auch noch mit einem Gegner auf Augenhöhe aufwarten konnte, wurde es eng.
Perfektes Material für eine fatale Erzählung
Bei alledem ist es nicht so, dass Cameron von diesen Ereignissen schlichtweg überrumpelt wurde. Er nahm sie als Risiko in Kauf – fahrlässig, wie er jetzt einsehen muss.
Dass es ihm nicht gelang, die EU-Gegner bei entscheidenden Fragen für das Referendum abzuholen, kommt hinzu - sei es nun das Thema der Migration oder die Brüsseler Bürokratie. Die Kampagne der Brexit-Gegner beschränkte sich weitgehend darauf, vor den wirtschaftlichen Folgen einen EU-Austritts zu warnen.
Das perfekte Material für die Erzählung des großen Zockers liefert dann noch Camerons eigene Biografie. Der Noch-Premier nannte seinen Lebenslauf einmal selbst "scheußlich privilegiert". Der Sohn eines Börsenmaklers ging auf die Eliteschule Eton, studierte in Oxford. Viele sagen ihm nach, den Wohlhabenden in der Welt, die als Mitverursacher der globale Banken- und Finanzkrise Großbritannien so geschadet haben, ein wenig zu nahe zu stehen.
Dass sich die britische Wirtschaft seit Camerons Amtsantritt 2010 wieder erholt hat, im vergangenen Jahr um 2,9 Prozent wuchs und die Inflationsrate einen Tiefstand erreichte, dürfte angesichts der Turbulenzen, die jetzt auf die britische Wirtschaft zukommen, schnell in Vergessenheit geraten.
Quelle: ntv.de