"Lassen uns nicht verdrängen" Frauen protestieren in Tel Avivs Orthodoxen-Viertel
24.08.2023, 22:19 Uhr Artikel anhören
Frauen-Aktivistin in der Orthodoxen-Hochburg Bnei Brak: Zuletzt häufen sich Berichte, dass Frauen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.
(Foto: picture alliance/dpa)
Israels rechts-religiöse Regierung bringt zunehmend liberale Frauen gegen sich auf: Tausende Demonstrantinnen ziehen durch einen Vorort Tel Avivs, in dem vor allem ultraorthodoxe Juden leben. Eine der Organisatorinnen denkt bereits daran, auszuwandern.
Tausende israelische Frauen haben Medienberichten zufolge in einem strengreligiösen Tel Aviver Vorort für den Erhalt von Frauenrechten demonstriert. Mit Protestschildern und israelischen Flaggen zogen sie am Abend durch die Straßen von Bnei Brak. Dort leben überwiegend ultraorthodoxe Juden. Vereinzelt kam es zu kleineren Konfrontationen, wie israelische Medien berichteten. Dutzende Einwohner versammelten sich demnach für eine Gegendemonstration.
Die Veranstalterinnen des Frauenprotests werfen der rechts-religiösen Regierung vor, sie wolle mithilfe einer umstrittenen Justizreform "den liberalen Charakter Israels verändern und es in ein religiöseres, diskriminierendes, ungleiches Land verwandeln". Dies zeige sich unter anderem in "Initiativen für Geschlechtertrennung und der Verdrängung von Frauen aus dem öffentlichen Raum".
Eine der Organisatorinnen ist Lee Hoffmann Agiv. Die 36-Jährige ist seit Jahresbeginn aktiv im Kampf gegen den Justizumbau. Wie viele ihrer Mitstreiterinnen sieht die Weinhändlerin aus einem Ort nördlich von Tel Aviv das Vorhaben der Regierung auch als massive Gefahr für Frauenrechte. "Ich bin wütend, enttäuscht, besorgt." Die Unternehmerin nahm bereits am ersten "Marsch der Mägde" in Jerusalem teil. Dabei liefen Frauen in langen roten Mänteln und weißen Hauben demonstrativ durch die Straßen - inzwischen ein bekanntes Motiv bei den Kundgebungen. Die auffällige Kleidung ist inspiriert durch den "Der Report der Magd" von Margaret Atwood - die Geschichte einer Diktatur, in der vor allem Frauen unterdrückt werden.
Schauplatz des Kulturkampfes sind öffentliche Verkehrsmittel
"Beim ersten Marsch waren wir 20 Frauen", sagt Hoffmann Agiv. "Heute marschieren schon Zehntausende von Frauen." Das mache ihr Hoffnung. Sich als Magd zu kleiden, vermittele eine "sehr starke Botschaft", erklärt sie. "Menschen auf der Straße - Männer und Frauen - haben uns gesehen und sind in Tränen ausgebrochen. Wir werden es niemandem erlauben, uns aus der Öffentlichkeit zu verdrängen“, sagt Hoffmann Agiv vor der Kundgebung.
In den vergangenen Wochen gab es immer wieder Berichte über Versuche, Frauen in Israel im öffentlichen Raum einzuschränken. Diese sind Ausdruck eines tiefen kulturellen Grabens zwischen der säkularen Mehrheit im Land und einer ultraorthodoxen Minderheit. Diese stellt zwar nur 13 Prozent der Bevölkerung, wird aber durch einflussreiche politische Parteien vertreten. Wegen ihres Kinderreichtums ist es auch die am schnellsten wachsende Gruppe in Israel, binnen vier Jahrzehnten könnte sie nach Schätzungen ein Drittel ausmachen. Oft werden öffentliche Verkehrsmittel Schauplatz dieses Kulturkampfes. Ein Busfahrer verwies Medienberichten zufolge etwa in der Stadt Aschdod eine Gruppe weiblicher Teenager in den hinteren Teil eines Busses und gab ihnen Decken, um sich zu bedecken. Bei einem weiteren Vorfall wurde einer Frau Berichten zufolge der Zutritt zu einem Bus komplett verwehrt.
Netanjahu betonte nach diesen Fällen, Israel sei ein freies Land, "in dem niemand einschränken wird, wer öffentliche Verkehrsmittel benutzen darf, oder vorschreiben wird, wer wo sitzt." Er habe nur wegen des starken Drucks durch die Protestbewegung und in sozialen Medien so reagiert, glaubt Hoffmann Agiv.
Frauenanteil in der Regierung schrumpft
Auch die Physikerin Schikma Bressler, eine der Galionsfiguren der monatelangen Proteste, sagte bei der jüngsten Kundgebung in Tel Aviv, man wolle ein Land, das auf den Werten der Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit basiere. "Ein jüdischer und demokratischer Staat, in dem Frauen sitzen können, wo sie wollen, und anziehen können, was sie wollen", sagte die Mutter von fünf Töchtern. Ultraorthodoxe Regierungsmitglieder wollen dagegen die Macht von Religionsgerichten ausweiten, in denen es nur männliche Richter gibt.
Umweltministerin Idit Silman von rechtskonservativen Regierungspartei Likud setzt sich dafür ein, dass Männer und Frauen in Naturparks zu bestimmten Zeiten nur getrennt baden dürfen. Dieses "Pilotprojekt" wurde allerdings zunächst von der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara gestoppt. Sie gilt als Vertreterin liberaler, westlicher Werte, für viele Regierungsmitglieder ist sie inzwischen eine Hassfigur geworden.
Weniger als ein Fünftel der Ministerposten in Israel liegt in weiblicher Hand. In der Vorgängerregierung des jetzigen Oppositionsführers Jair Lapid waren es noch ein Drittel gewesen. Auch innerhalb der Ministerien gibt es heute kaum noch Frauen in Spitzenpositionen. May Golan, eine für Frauenrechte zuständige Ministerin in der Regierung Netanjahu, wird von der Protestbewegung abgelehnt. Sie unterstützt die Justizreform und Kritikerinnen werfen ihr vor, sich nicht wirklich für eine Verbesserung der Situation von Frauen in Israel einzusetzen.
"Dialog ist möglich"
Mit dem Marsch nach Bnei Brak wollten die Demonstrantinnen Alarmglocken läuten. "Viele Ultraorthodoxe haben keinen Zugang zu Medien", erklärt Hoffmann Agiv. "Sie müssen uns sehen, unseren Schmerz, unseren Zorn." Einen Dialog hält sie für möglich. Sie betont, der Marsch sei nicht als Provokation gedacht. "Wer sagt, dass Frauen im öffentlichen Raum eine Provokation sind, der hat ein Problem."
Motivation für ihren aufreibenden Kampf geben ihr auch ihre beiden Töchter im Alter von vier und sieben Jahren. "Wir drei haben auch die deutsche Staatsangehörigkeit", sagt Hoffmann Agiv. Sie habe schon darüber nachgedacht, Israel zu verlassen. "Aber im Moment ist unser Kampf noch nicht vorbei, deshalb sind wir hier", sagt sie. "Meine ältere Tochter versteht schon, dass ich für ihre Zukunft und die ihrer kleinen Schwester kämpfe. Ich werde meine Kinder nicht in einer Diktatur großziehen."
Quelle: ntv.de, mau/dpa