Katastrophe am Dnipro Schuld ist Russland, aber wem nutzt der Dammbruch?


Eine Satellitenaufnahme vom 7. Juni zeigt den Bruch des Kachowka-Staudamms.
(Foto: Satellite image/2023 Maxar Technologies/dpa)
Auch zwei Tage nach dem Dammbruch in der Ukraine ist die Ursache der Zerstörung nicht geklärt. Klar ist: Die Katastrophe hat weitreichende Folgen. Klar ist auch, wer in erster Linie davon profitiert. Ein Überblick.
Ist der Dammbruch überhaupt so schlimm?
Ja, aus mehreren Gründen. Einmal wegen der Größe des überschwemmten Gebiets: Nach Angaben des Gouverneurs der Region Cherson, Olexander Prokudin, steht eine Fläche von 600 Quadratkilometern unter Wasser, der größte Teil davon auf dem russisch besetzten linken Ufer des Dnipro. Allein auf der rechten Seite des Flusses wurden 20 Ortschaften und mehr als 2600 Häuser überflutet, teilte der ukrainische Katastrophenschutz mit. Fast 2000 Menschen seien bislang in Sicherheit gebracht worden.
Zweitens wegen der Minen: Über Monate habe das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in der Region bei der Räumung von Minen geholfen, Minenfelder kartiert sowie Schulungen und Ausrüstung bereitgestellt, sagte Erik Tollefsen, Leiter der Abteilung für Waffenkontamination beim IKRK. "Wir wussten, wo die Gefahren lagen", so Tollefsen. "Jetzt wissen wir es nicht mehr. Alles, was wir wissen, ist, dass sie irgendwo flussabwärts liegen."
Drittens geht, wie immer bei Flutkatastrophen, eine Gefahr auch von umweltschädlichen Substanzen aus, die ins Erdreich gelangen, etwa durch fortgespülte Öltanks. So wurden nach ukrainischen Angaben rund 150 Tonnen Maschinenöl in den Dnipro geschwemmt. Das ukrainische Agrarministerium fürchtet zudem gravierende Folgen für die Landwirtschaft, weil große Anbauflächen überflutet und andere von der Bewässerung abgeschnitten worden seien. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen warnte bereits globalen Konsequenzen: "Die massiven Überflutungen vernichten neu angepflanztes Getreide und damit auch die Hoffnung für 345 Millionen Hungerleidende auf der ganzen Welt, für die das Getreide aus der Ukraine lebensrettend ist", sagte der Leiter des Berliner WFP-Büros, Martin Frick.
Ist Russland schuld?
Eindeutig ja, und zwar unabhängig davon, ob die Russen für die konkrete Zerstörung des Staudamms verantwortlich sind. Die Russen begehen in der Ukraine zahlreiche Kriegsverbrechen, sie entführen Kinder, vergewaltigen Frauen, foltern Zivilisten, beschießen Städte und Dörfer. Schon der Krieg an sich ist ein Verbrechen, ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Was auch immer der Grund für den Bruch des Staudamms war - diese Katastrophe wäre nicht passiert, wenn Russland nicht in die Ukraine einmarschiert wäre.
Aber wer ist konkret für den Dammbruch verantwortlich?
Das ist im Moment nicht sicher zu klären. Der russische Machthaber Wladimir Putin sagte nach Angaben des Kremls in einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, "die Kiewer Behörden" würden "auf Anraten ihrer westlichen Handlanger (…) Kriegsverbrechen begehen, offen terroristische Methoden anwenden und Sabotage auf russischem Gebiet organisieren". Ein Beispiel dafür sei "die barbarische Aktion zur Zerstörung des Wasserkraftwerks Kachowka in der Region Cherson, die zu einer großen ökologischen und humanitären Katastrophe führte".
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb auf Twitter, "der Terrorstaat" Russland habe die Katastrophe verursacht und maximiere nun auch noch den Schaden, indem er die Menschen in den betroffenen Gebieten sich selbst überlasse.
Es wäre falsch anzunehmen, dass sich hier zwei gleichwertige Aussagen gegenüberstehen. Gerade mit Blick auf die Ukraine hat Putin mehrfach gelogen und dies auch später selbst eingeräumt. Dies ist kein Beweis dafür, dass Russland den Staudamm gesprengt hat. Aber alles, was Putin sagt, steht unter dem Vorbehalt, dass hier ein Lügner spricht. Das gilt ebenso für seine Gefolgsleute, etwa seinen Sprecher Dmitri Peskow, Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin.
Mit Blick auf die Zeit seit der illegalen Annexion der Krim und dem Beginn des Donbass-Kriegs 2014 sagte der Sicherheitsexperte Nico Lange bei ntv, "wir sollten aus dem Informationskrieg der vergangenen acht Jahre gelernt haben": "Wir wissen, wer die Ukraine überfallen hat, wir wissen, wer die ganze Zeit über gelogen hat, wir wissen auch, wer MH17 abgeschossen hat." Insofern sei es sehr plausibel anzunehmen, dass Russland den Staudamm gesprengt habe, um die ukrainische Gegenoffensive zu verlangsamen.
Was sagen Experten?
Angriffe auf die Straße auf dem Damm gab es bereits im vergangenen Jahr - im August durch die Ukraine, im November durch Russland. Aus russischer Perspektive könnte es jetzt sinnvoll gewesen sein, den Staudamm zu zerstören, sagt auch Verteidigungsexperte Wolfgang Richter im Interview mit ntv.de. "Nehmen wir mal an, die Ukrainer wollten im Donbass nur ablenken und dann doch einen Überraschungsangriff im Südwesten starten, dann hätten die Russen natürlich das Ziel haben können, diesen Vorstoß zu verhindern. Und das hätten sie mit der Sprengung des Staudamms tatsächlich erreicht. Das könnte also die militärische Logik dahinter sein, wenn es sich um eine gezielte Sprengung der russischen Armee handelte."
Die umgekehrte Variante, dass die Ukraine am Dnipro einen russischen Angriff verhindern wollte, hält Richter für "nicht völlig ausgeschlossen", aber weniger plausibel. "Denn die Russen stehen im Donbass in der Defensive, und sie haben ohnehin schon mit dem Problem zu kämpfen, dass ihre Truppen zunehmend ausgedünnt und entkräftet sind. In dieser Situation einen militärisch so schwierigen Angriff in Richtung Cherson über den breiten Dnipro zu wagen, dürften ihre derzeitigen Ressourcen kaum zulassen."
Die Annahme, dass Russland den Staudamm nicht zerstört hätte, weil die Krim auf das Wasser des Nord-Krim-Kanals angewiesen ist, der infolge des Zusammenbruchs austrocknen wird, weist ein ukrainischer Politologe zurück. "Diejenigen, die jetzt sagen, dass es auf der Krim kein Wasser geben wird, irren sich", schreibt Vadym Denysenko, der auch Abgeordneter des ukrainischen Parlaments ist, auf Facebook. "Die Reservoirs auf der Krim sind voll, und für ein paar Monate wird das Thema überhaupt nicht mehr relevant sein." Vor allem: Die Krim sei acht Jahre, von 2014 bis 2022, ohne das Wasser aus dem Dnipro ausgekommen.
Die Organisation "Conflict Intelligence Team", die mit dem Investigativnetzwerk Bellingcat zusammenarbeitet, hält es indessen für wahrscheinlich, dass der Staudamm nicht absichtlich, sondern fahrlässig zerstört wurde. Explosionen, die in der Nähe zu hören gewesen seien, seien infolge von Minen verursacht worden, die erst nach dem Dammbruch mitgerissen wurden.
Möglich scheint jedoch auch eine unabsichtliche Sprengung zu sein: Die Ukraine habe mehrfach darauf hingewiesen, dass Russland den Staudamm vermint habe, sagt Nico Lange. "Es gibt viele in der russischen Propaganda, auch in der russischen Führung, die immer gesagt haben: Wenn man die Ukraine am Ende nicht behalten kann, dann muss man sie wenigstens verwüsten." Genau das passiere derzeit.
Wem nutzt oder schadet der Dammbruch militärisch?
Sicherheitsexperte Joachim Weber von der Universität Bonn sagte bei ntv, er halte es für unwahrscheinlich, dass die Ukraine die Krim austrocknen wolle. Der Nutzen wäre nicht groß, und dann stelle sich auch die Frage, warum sie das nicht schon früher gemacht hätten. Aus seiner Sicht sei es "relativ klar", dass Russland verantwortlich sei, er sieht auch den größeren Nutzen auf der russischen Seite. "Ich nehme an, dass die Russen entweder die vage Befürchtung gehabt haben oder vielleicht die sichere Kunde davon, dass ukrainische Offensivbewegungen in der Region Cherson geplant gewesen sind."
Michael Kofman, ein Experte für das russische Militär, glaubt allerdings nicht, dass die Zerstörung des Staudamms negative Auswirkungen auf die Offensive der Ukraine haben wird. Den Dnipro zu überqueren, wäre auch ohne Flutwelle riskant und daher wenig wahrscheinlich gewesen, schreibt er auf Twitter. Kofman hält es dennoch für wahrscheinlich, dass Russland hinter dem Dammbruch steckt. Die Zerstörung des Staudamms komme zwar "einer Sprengung des eigenen Fußes gleich", weil die Folgen für Russlands Interessen verheerend sind. Aber das bedeute nicht, dass Moskau dies nicht getan habe.
Quelle: ntv.de