Politik

Konkurrenzkampf unter Flüchtlingen Hamu will nicht zum Wolf werden

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(Foto: picture alliance / dpa)

Hawar Hamu verachtet das Recht des Stärkeren. Doch wie Hunderte andere Flüchtlinge versucht er jeden Tag, in das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales zu kommen. Nur wer es in der Schlange nach vorn schafft, kann auf Geld und Unterkunft hoffen.

Hawar Hamus Atem wird immer tiefer. Der 27 Jahre alte Syrer stützt seine Hände auf die Knie. Sein Kopf versinkt zwischen den Schultern, dann sinkt er noch weiter herab, bis er beinahe zwischen seinen Knien hängt. Beim nächsten Ruckeln der U-Bahn wird Hamu vornüber kippen. So wirkt es zumindest.

Es ist 4.30 Uhr, Hamu ist auf dem Weg zum Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin-Moabit. Das Lageso ist die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge in der Hauptstadt. Sie werden dort registriert, bekommen Gutscheine für Unterkünfte und Geld für etwas zu essen. Wer es hineinschaffen will, muss allerdings früh aufstehen. Und rücksichtslos sein.

Schon um 5 Uhr kommt Hawar Hamu vor dem Lageso an. Dort warten bereits Hunderte Menschen. Und Dutzende schlafen auf dem Bürgersteig.

Schon um 5 Uhr kommt Hawar Hamu vor dem Lageso an. Dort warten bereits Hunderte Menschen. Und Dutzende schlafen auf dem Bürgersteig.

(Foto: Issio Ehrich)

Ein Ruck, die U-Bahn hält. Hamu reagiert rechtzeitig. Statt zu fallen, steht er auf. Mit Hamu drängen Dutzende junge Männer aus dem Waggon. Völlig übermüdet schlurfen sie am Gleis entlang. Schon an der ersten Treppe allerdings fangen einige an zwei, dann drei Stufen mit einem Schritt zu nehmen. Hamu sagt: "Die sind wie Tiere." Dann erzählt er, dass er fürchtet, selbst zum "Tier" zu werden.

Es ist noch dunkel, als Hamu um 5 Uhr den Eingang zum Lageso-Gelände erreicht. Rund 1000 Menschen stehen bereits davor, obwohl das Amt erst um 6 Uhr öffnet. Sicherheitsleute halten die Menschen davon ab, die Metallgitter zu überspringen, um frühzeitig einen Platz so nah wie möglich am Hauptgebäude zu ergattern. Das liegt noch einen ausgedehnten Sprint weit entfernt.

Hamu schleicht um die Menschentraube herum, sucht nach einem günstigen Platz, um schnell durchzukommen, wenn die Sicherheitsleute beiseitetreten. Doch wer drängelt, löst ein Raunen in der Masse aus und wird zurückgeschubst. Die Menschen sind müde, hungrig, gereizt. Erst am Montag machte ein Video von Flüchtlingen die Runde, die sich vor dem Lageso prügelten. Hamu weiß all das, bleibt am Rande stehen und wartet. Noch. Zeit, um zu erzählen, wie er sich in den vergangenen Monaten zusehends in einen Menschen verwandelte, der er nicht sein möchte.

Schlafen im Staub

Hamu stammt aus Afrin, einem Bezirk im Nordwesten Syriens, in dem überwiegend Kurden leben. Er studierte Film und Regie. Vor allem mit Kurzfilmen beschäftigte er sich. Sein Geld verdiente Hamu nebenher als Dekorateur. Doch sein Studium musste Hamu abbrechen, und von den vielen Deckengewölben und Wänden, die er verziert hat, dürfte wenig übrig geblieben sein.

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Afrin liegt nur 60 Kilometer von der Metropole Aleppo entfernt, die das Regime von Baschar al-Assad regelmäßig mit Fassbomben, angreift. Eine Bedrohung stellen aber auch die Rebellen-Gruppen dar, die die Region rund um Afrin besetzen. Zugleich ist der Islamische Staat (IS) nicht fern. "Leute wie ich, haben mit allen Parteien des Bürgerkriegs Probleme", sagt Hamu.

Im Frühjahr sah Hamu keine Perspektive mehr in Afrin. "Unser Land stirbt", sagt er. "Wir brauchen einen neuen Ort für einen neuen Start." Hamu sammelte unter Familienmitgliedern und Freunden rund 3000 Euro für einen Schlepper und machte sich auf den Weg. Von Afrin aus überquerte er die türkische Grenze. An der Westküste der Türkei stieg er in ein Boot. Es war neun Meter lang, hatte einen Außenbordmotor. Die Fahrt war ruhig, bis zwei Männer anfingen, sich zu streiten. Der eine war Sunnit, der andere Schiit. Als sie handgreiflich wurden, drohte das Boot zu kentern.

Hamu, ein kurdischer Moslem, mischte sich ein, versuchte zu erklären, wie unsinnig es sei, sich über Religionen zu streiten. Die Streithähne brüllten ihn an: "Du bist Kurde, halt die Klappe." Trotz der Keilerei auf See erreiche Hamu Griechenland. Und sein langer Weg über den europäischen Kontinent begann.

In Mazedonien hatte er das erste Mal das Gefühl, "zum Tier" zu werden, wie er es sagt. "Wir gingen sieben Tage lang", erzählt er. "Wenn wir müde wurden, legten wir uns in den Staub. Wenn wir Durst hatten, tranken wir aus einem Fluss." Auf Mazedonien folgte ein Marsch durch Kosovo, danach Serbien, Ungarn, Österreich und Deutschland. Auf seiner einmonatigen Flucht durch Europa habe er mindestens 30 Ideen für Kurzfilme gehabt, sagt Hamu. Doch er habe nicht mal einen Zettel besessen, um sie aufzuschreiben. "Und was bringt es denn auch, sich Gedanken über so was zu machen, wenn es ums Überleben geht", fügt er hinzu.

Seit einem Monat ohne Geld

Als Hamu vor vier Monaten in der Bundesrepublik ankam, dachte er, dass die Zeiten, in denen es nur ums Überleben geht, vorüber seien, dass er endlich ein neues Leben anfangen könnte: weiterstudieren, arbeiten, seine Frau nachholen, die bei Verwandten in Damaskus Unterschlupf gefunden hat. Erst sah es auch so aus, als würde alles klappen. Er kam in Hamburg an. Dort wurde er schnell registriert und nach Berlin verteilt. Auch am Lageso war vor vier Monaten noch nicht viel los. Er schaffte es schnell hinein, bekam Taschengeld und alles Nötige für eine Unterkunft. Sein Antrag auf Schutz in Deutschland beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wurde wenig später angenommen.

Hamu braucht nur noch eine Überweisung des Lageso, die belegt, wann er dort welche Leistungen bezogen hat und dass er derzeit keine Leistungen mehr bezieht. Dann könnte er Geld vom Jobcenter statt vom Lageso bekommen und nach dem Ablauf einer dreimonatigen Frist in die Jobvermittlung kommen. Auch an eine Familienzusammenführung ist frühestens dann ernsthaft zu denken.

Doch seit jeden Tag Tausende neue Flüchtlinge in Deutschland ankommen, sind die Behörden in Berlin völlig überfördert. Sie schaffen es nicht, alle Anträge abzuarbeiten. Die tagtägliche Schlange vor dem Lageso ist das Ergebnis. Und jetzt steht Hamu nicht nur ohne Überweisung ans Jobcenter dar, sondern seit einem Monat auch ohne Geld. "Was soll ich tun", fragt er immer wieder.

Angst vor Massenunterkünften

Würde Hamu nicht bei Freunden unterkommen, wäre seine Lage noch dramatischer. Er würde wohl wieder auf dem Boden schlafen, so wie damals in Mazedonien, so wie der 23 Jahre alte Karam Saady, seine Mutter Eqpal, sein kleiner Bruder Almontazar und seine Schwester Retaj. Die Familie aus dem Irak liegt eingewickelt in Tücher und Wolldecken nur ein paar Meter von Hamu entfernt. "Wir schlafen seit einer Woche auf der Straße", sagt Saady. "Es ist kalt." Das Thermometer steigt an diesem frühen Morgen auf höchstens fünf Grad. Sollte Hamu seinem Freund zur Last fallen, bevor er es ins Lageso schafft, droht auch ihm dieses Schicksal.

Zwar gibt es laut einer Sprecherin der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales mittlerweile genug Schlafplätze für Flüchtlinge in Berlin. Jeden Abend um 19 Uhr fahren nach Betriebsschluss des Lageso Busse vor, die Flüchtlinge ohne Dach über dem Kopf in Notunterkünfte bringen. Viele der Menschen vorm Lageso wissen aber nichts von dem Angebot. Andere ziehen die Straße den Massenunterkünften vor. Denn es spricht sich rum, dass die Lage in den improvisierten Lagern mitunter prekär ist. So prekär, dass in mehreren überfüllten Flüchtlingsunterkünften Banalitäten wie Drängeleien in der Essensschlange bereits zu Massenschlägereien führten. Hinzu kommt: Wer in den Notunterkünften schläft, läuft Gefahr am nächsten Morgen nicht rechtzeitig in die Schlange vorm Lageso zu kommen. Die Angst, dass die Notfalllösung zur Dauereinrichtung wird, ist groß.

"Soll ich zum Dieb werden?"

Um kurz vor 6 Uhr wird die Menschenmenge vor dem Lageso noch unruhiger. Die Leute schreien und schubsen. Jeder ist hier dem anderen Konkurrent. Familien mit kleinen Kindern geben die Sicherheitsleute deshalb mittlerweile schon einen kleinen Vorsprung, weil sie es sonst wohl nie ins Lageso schaffen würden.

Als wolle er sich dafür entschuldigen, was gleich passieren würde, fragt Hamu noch einmal: "Was soll ich denn tun, wenn ich kein Geld für Essen bekomme, wenn ich keinen Platz zum Schlafen habe?" Als die Sicherheitsleute den Weg für die jungen Männer freigeben, beginnt der Sturm auf das Hauptgebäude. Und Hamu stürmt mit. Er schafft es weit nach vorn. Seine Chancen, es dieses Mal hineinzuschaffen, sind gut - bis er eingekeilt in einem sprintendem Pulk ins Stolpern gerät, aus vollem Lauf stürzt, sich den Ellenbogen aufschlägt. Als Hamu sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder aufrappelt, ist es zu spät. Hunderte stehen schon vor ihm am Haupteingang an.

Hamu hustet, ihm ist kalt, er wirkt noch müder als um 4.30 Uhr, als er in der U-Bahn fast von seinem Sitz kippte. Auf dem Lageso-Gelände kursieren Gerüchte von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes, die zahlungswillige und zahlungskräftige Flüchtlinge für Geld ins Amt schmuggeln. "Soll ich zum Dieb werden", fragt Hamu. Dann zitiert er ein Sprichwort aus seiner Heimat im Nordwesten Syriens, das es in abgewandelter Form aber wohl auch in jedem anderen Teil der Welt gibt: "Wer in der Wildnis lebt, muss zum Wolf werden, oder als Schaf sterben."

Nach neun vergeblichen Versuchen, seine Überweisung zum Jobcenter zu bekommen, hat Hamu es am Montag geschafft, ins Lageso zu gelangen. Die Überweisung ans Jobcenter hat er trotzdem noch nicht. Die Mitarbeiter dort gaben ihm lediglich einen Termin für den nächsten Besuch des Amtes.

Quelle: ntv.de

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