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Sumpfgebiet stoppt Panzer Wie der "Heldenfluss" Kiew noch immer beschützt

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Ukrainische Streitkräfte ziehen einen russischen Panzer aus dem Irpin-Fluss.

Ukrainische Streitkräfte ziehen einen russischen Panzer aus dem Irpin-Fluss.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Um russische Panzer zu stoppen, öffnet die Ukraine einen Staudamm und flutet weite Teile im Norden von Kiew. Es ist nicht das erste Mal, dass der Irpin-Fluss die Hauptstadt vor einem Angriff rettet. Doch das empfindliche Ökosystem des Sumpfgebiets birgt auch Gefahren.

Als russische Truppen Ende Februar mit Panzern von Norden in Richtung Kiew fuhren, wurden sie abrupt gestoppt. Nicht von ukrainischen Soldaten, die ihre Hauptstadt vehement verteidigten, sondern von Wasser. Im Nordwesten der Millionenstadt hatte die Öffnung des Irpin-Staudamms großflächige Überschwemmungen ausgelöst, wie Satellitenbilder aus dem Kriegsgebiet zeigten. Die Folge: Weite Teile vor Kiew verwandelten sich in ein Sumpfgebiet und versperrten den Russen den Weg.

Blick aus dem All auf die Mündung des Irpin in den Dnepr-Stausee.

Blick aus dem All auf die Mündung des Irpin in den Dnepr-Stausee.

(Foto: Satellite Imagery © Maxar Technologies Provided by European Space Imaging)

Mittlerweile haben sich die Angreifer aus der Region zurückgezogen und konzentrieren sich mit ihrer Offensive auf den Osten der Ukraine. Doch das Sumpfgebiet vor Kiew ist geblieben. Rund 13.000 Hektar, die in den 1960er Jahren trockengelegt wurden, stehen nach der Öffnung des Irpin-Staudamms wieder unter Wasser. Vor Ausbruch des Krieges sollte dort, wo jetzt wieder Sumpfgebiet ist, in dem Dorf Demydiv das Fundament einer riesigen neuen Wohnsiedlung entstehen, heißt es in einem Bericht im britischen "Guardian". Nun wisse niemand, wie lange das Wasser dort bleiben werde.

Geflutete Flächen, hier in einer neueren Aufnahme vom 22. März: Ein unüberwindliches Hindernis für russische Truppen.

Geflutete Flächen, hier in einer neueren Aufnahme vom 22. März: Ein unüberwindliches Hindernis für russische Truppen.

(Foto: Satellite Imagery © Maxar Technologies Provided by European Space Imaging)

Der örtliche Ökologe Wolodymyr Boreyko will dem Irpin-Fluss den Namen "Heldenfluss" verleihen und unter strengen Umweltschutz stellen. "Der Irpin hat dieses Jahr zusammen mit den ukrainischen Streitkräften die wichtigste Rolle bei der Verteidigung unserer Hauptstadt in den letzten 1000 Jahren gespielt", sagt Boreyko dem "Guardian". Die zuvor genehmigten großen Bauprojekte sollten gestoppt werden, forderte der Ökologe. Denn: Es ist nicht das erste Mal, dass der Irpin-Fluss Kiew vor einem Angriff schützt. "Vor tausend Jahren, in den Tagen der Kiewer Rus, schützte der Fluss Kiew wiederholt von Norden und Nordwesten vor den Angriffen der Petschenegen", einem Stamm, der die Region von Osten aus angriff. Der Fluss sei 162 Kilometer lang und seine Aue so breit und sumpfig gewesen, dass die feindliche Kavallerie nicht passieren konnte, so Boreyko. Auch im Zweiten Weltkrieg fluteten die Ukrainer das Gebiet, um sich 1941 vor den Angriffen der Deutschen zu schützen.

"Wenn Putin in ein oder zwei Jahren angegriffen hätte, wäre der Fluss Irpin nicht in der Lage gewesen, die Hauptstadt zu verteidigen, weil das gesamte Überschwemmungsgebiet zementiert worden wäre", erklärt der Ökologe mit Blick auf die Baupläne. Somit hätte das Wasser keinerlei Hindernis für russische Panzer dargestellt.

Druck auf Trockenlegung steigt

Bevor die Sowjetunion den Dnepr-Staudamm vor rund 100 Jahren baute, war die Irpin-Aue ein Epizentrum der Artenvielfalt, sagt Bohdan Prots, Leiter der Pflanzenökologie am Nationalen Museum für Naturgeschichte und Direktor des Zentrums für Umweltstudien und Naturschutz dem Bericht zufolge. "Es war eine Art ukrainischer Amazonas mit riesigen Feuchtgebieten, bestehend aus Sümpfen, Mooren und Marschen. An manchen Stellen war er bis zu fünf Meter tief und voller Vogelarten, die heute verschwunden sind." Die später gebauten sowjetischen Staudämme hatten demnach katastrophale Auswirkungen auf das Ökosystem am Irpin.

Doch Hoffnung auf ein wiederkehrendes Sumpfgebiet mit einem funktionierendem Ökosystem hat der Experte nicht. "Nur weil das Wasser zurückgekehrt ist, heißt das nicht, dass wir es mit einem neuen Feuchtgebiet zu tun haben, das reich an biologischer Vielfalt ist", so Prots. Das würde viele Jahre dauern. Stattdessen machen sich aufgrund der Wassermassen Sorgen breit. "Es hat uns vielleicht geholfen, unsere Hauptstadt zu verteidigen, aber schon bald wird der Druck steigen, dieses Gebiet wieder trocken zu legen", sagt Prots. "Können Sie sich vorstellen, wie viele Millionen Moskitos in diesem Sommer hier sein werden?"

Eine Trockenlegung könnte jedoch einige Zeit dauern. Ein Grund ist, dass die Region Kiew mit Minen übersät ist, sodass ein solcher Versuch bislang überhaupt nicht gestartet werden konnte. Es gebe zwar eine gute Chance, dass der Damm irgendwann wieder aufgebaut wird, "aber im Moment sind alle unsere Energien und Gedanken darauf gerichtet, die Invasoren zu besiegen", so Prots.

Chemikalien verwandeln Sumpfgebiet in giftige Gewässer

Ein anderer Grund, warum die Feuchtgebiete noch erhalten bleiben sollten, ist, dass die Gefahr eines Angriffs noch nicht vorbei ist. "Zuallererst dienen diese Gewässer jetzt der Verteidigung von Kiew", sagt Alexey Wasilyuk, Biologe und Gründer und Vorsitzender der ukrainischen Naturschutzgruppe UNCG. "Solange wir also nicht sicher sind, dass Russland nicht erneut versuchen wird, Kiew zu erobern, sehe ich nicht, wie wir es rechtfertigen können, dieses Gebiet erneut vollständig trockenzulegen." Außerdem glaubt Wasilyuk, könnte es äußerst schwierig oder vielleicht unmöglich werden, das Geschehene rückgängig zu machen.

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Doch die Rückkehr des Wassers birgt auch Gefahren, warnt der Biologe. "Das örtliche Ökosystem im Einzugsgebiet des Irpin war schon vor dem Dammbruch in einem schlechten Zustand", sagt er. "Jetzt stehen hier viele russische Panzer und militärische Ausrüstung unter Wasser. Die Vermischung von Chemikalien und Ölen aus Treibstofftanks mit der Verschmutzung durch überschwemmte Mülldeponien stellt eine große Gefahr dar", so Wasilyuk. Unmittelbar vor dem Krieg seien zudem viele Teile des Landes mit Pestiziden und Düngemitteln besprüht worden. Das sei sowohl für Menschen als auch Tiere gefährlich.

Trotz der Risiken bleibt Wasilyuk optimistisch, dass eine Lösung gefunden werden könnte und Kiews alte Feuchtgebiete vielleicht für immer zurückkehren werden. "Dies ist möglicherweise das wertvollste und wichtigste Feuchtgebiet in der Ukraine, nicht wegen seiner zerbrechlichen oder einzigartigen Artenvielfalt, sondern weil die Schlacht um Kiew ohne diese sumpfige Barriere vielleicht ganz anders verlaufen wäre."

Quelle: ntv.de

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