Gewalt in Chemnitz "Hier wurde Pogromstimmung verbreitet"
27.08.2018, 17:30 Uhr
Hintergrund der Demonstration war ein tödlicher Streit in der Nacht zum Sonntag nach dem Chemnitzer Stadtfest. Ein 35-jähriger Deutscher war im Krankenhaus an seinen Verletzungen gestorben.
(Foto: dpa)
Nach einem tödlichen Streit in Chemnitz rufen rechte Gruppen im Netz zu Spontan-Demos auf. Es kommt zu Hetzjagden. Im Interview mit n-tv.de erklärt die Chefin der Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, warum Sachsen immer wieder ein Problem mit Rechtsextremen hat.
n-tv.de: In Chemnitz haben hunderte gewaltbereite Demonstranten regelrecht Jagd auf Migranten gemacht, während die Polizei massiv überfordert war. Was ist dort schief gelaufen?
Anetta Kahane: Mit rechten Hooligans, Neonazis, der AfD und Pegida-Anhängern hat sich in Chemnitz eine unsägliche Allianz gebildet. Die Ausschreitungen gestern haben gezeigt: Hier haben Gruppierungen zusammengefunden, die irgendwie auch zusammengehören – und das alles basierend auf einer Stimmung, die extrem flüchtlingsfeindlich und aggressiv ist.
Wieso immer wieder Sachsen?
Schon der Vorfall mit dem Filmteam des ZDF in Dresden hat gezeigt: In Sachsen herrscht ein hohes Maß an Aggressivität seitens der rechten Szene und an Abwehrbereitschaft von Seiten der CDU-geführten Landesregierung. Die Politik will nicht einräumen, dass es Probleme mit Rechten gib. Als Kurt Biedenkopf von 1990 bis 2002 Ministerpräsident war, hatte Sachsen ein extrem großes Problem mit Neonazis. Trotzdem hat er immer behauptet, seine Sachsen wären immun dagegen. Damals hat sogar die Landesregierung Druck auf Landräte und Bürgermeister ausgeübt und angeregt, sich bloß nicht zu viel zu beklagen. Biedenkopf hat sie mit diesen Problemen systematisch alleine gelassen. Diese Logik und eine politische Annäherung an die Rechte verfolgt die CDU in Sachsen bis heute.
Wie kann die Polizei auf spontane Demos in Zukunft besser reagieren?
Eine Stadt wie Chemnitz müsste eigentlich schnell eine Bereitschaftspolizei zusammenkriegen. Das geht bei Fußballspielen schließlich auch. Dass die Polizei Fehler gemacht hat, will ich jetzt aber nicht unterstellen. In diesem Fall war sicherlich viel weniger die Polizei das Problem als eine vergiftete Stimmung, die so etwas erst möglich gemacht hat. Dass in Chemnitz ein Mensch ums Leben gekommen ist, ist schrecklich. Wenn Bürger sich darüber aufregen und demonstrieren, ist das vollkommen okay. Was in Chemnitz allerdings passiert ist, geht darüber hinaus. Hier wurde gehetzt und Pogromstimmung verbreitet.
Die Proteste waren Gerüchten zufolge ein Racheakt für den Tod eines 35-Jährigen. Wie gefährlich sind solche Spekulationen im Internet?
Im wahrsten Sinne des Wortes handelt es sich dabei um Volksverhetzung. Die Sprache ist extrem brutal, denn es wird oft unverhohlen zu Mord und Totschlag aufgerufen. Wir können beobachten, dass dort, wo die sozialen Netzwerke auch regional sehr stark hetzen und aktiv sind, auch die Gewaltbereitschaft und die Gewalttätigkeit von rechtsextremen Gruppen höher ist. Zwischen Hetze im Internet und der Mobilisierung zu Gewalttaten gibt es einen direkten Zusammenhang.
Wo liegt die Wurzel dafür, dass Fremdenhass in Gewalt auf der Straße umschlägt?
Menschen, die das Gefühl haben, dass sie sozusagen Volkeswille durchsetzen und dafür gesellschaftlich nicht geächtet werden, haben eine niedrigere Schwelle für Gewalt. In Sachsen hat leider die Jahrzehnte währende Verharmlosung des Rechtsextremismus dazu geführt.
Was sollte die Landesregierung in Sachsen jetzt tun?
Sachsen muss den Rechtsstaat wahren, Menschen, die angegriffen werden, schützen und gegen nicht angemeldete Demonstrationen konsequent vorgehen und Gewaltexzesse verhindern – das macht sie in anderen Fällen ja auch. Zusätzlich muss sie der Bevölkerung klar machen, dass nicht nach dem "Volksgefühl" und "Rechtsempfinden" gehandelt wird, sondern nach dem Gesetz. Die CDU muss an dieser Stelle wirklich auf Rechtsstaatlichkeit beharren – das wäre schon viel. Sollten gewaltbereite oder verfassungsfeindliche Gruppen Straftaten begehen, müssen diese natürlich verboten werden. Volksverhetzung bleibt Volksverhetzung.
Die Vorkommnisse in Chemnitz haben sich ausgerechnet am Jahrestag der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen ereignet. Wiederholt sich hier Geschichte?
Ich bezweifle, dass die zeitliche Überschneidung mehr als ein Zufall ist. Wir werden den Rechtsextremismus allerdings so lange nicht los, bis nicht verstanden wird, dass es ein Problem ist. Anfang der 90er Jahre in Lichtenhagen ist auf dem Rücken einer pogromartigen Stimmung das Asylrecht eingeschränkt worden. Die Randalierer hatten damals das Gefühl, mit Druck auf der Straße lässt sich politisch etwas erreichen. Das ist nicht gerade eine Entmutigung, sondern eher eine Ermutigung. Gleichzeitig wurde immer betont, es handele sich dabei lediglich um Randerscheinungen.
Das stimmt aber nicht?
Wir haben immer wieder deutlich belegt, dass das nicht so ist. In Ostdeutschland gibt es ein größeres Problem mit Rechtsextremismus, das auch mit der DDR-Vorgeschichte zu tun hat. Bislang galt die Auseinandersetzung damit immer als unangenehm. Mitte der 90er Jahre waren die Zentrifugalkräfte dieser völkischen Aggressivität noch so groß, dass die Zivilgesellschaft ohne bewusstes Gegensteuern kaum eine Chance hatte. Erst in den 2000er Jahren wurden Landes- und Bundesprogramme zur Demokratieförderung eingeführt. Auch jetzt engagieren sich viele Menschen in den Kommunen gegen rechte Gewalt. Das ist ein Erfolg. Sollte die Politik aber weiterhin der AfD hinterherlaufen, dann haben wir ein Problem.
Mit Anetta Kahane sprach Juliane Kipper
Quelle: ntv.de