Politik

Hans-Jochen Vogel im n-tv.de Interview "Ich habe weder Handy noch Internet"

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel vor seinem Wohnsitz, einem Seniorenheim in München.

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel vor seinem Wohnsitz, einem Seniorenheim in München.

(Foto: picture alliance / dpa)

Er war Oberbürgermeister von München und West-Berlin, Minister, SPD-Chef und Kanzlerkandidat. Heute lebt Hans-Jochen Vogel mit seiner Frau in einem Seniorenheim in München. Im n-tv.de Interview spricht er über seine SPD, das Altern und moderne Technik.

n-tv.de: Seit 2006 leben Sie mit Ihrer Frau Liselotte in einem Münchner Wohnstift. Wie geht es Ihnen?

Hans-Jochen Vogel: Meine Eltern und meine Schwiegermutter haben in demselben Altenwohnheim gelebt. Wir fühlen uns wohl hier.

Hans-Jochen Vogel und Frau Liselotte.

Hans-Jochen Vogel und Frau Liselotte.

(Foto: picture alliance / dpa)

Wie sieht denn ein typischer Tag bei Ihnen aus?

Der typische Tag beginnt meistens so um 6.45 Uhr. Dann hole ich mir die "Süddeutsche Zeitung", die vor der Tür liegt. Gegen 7.45 Uhr frühstücken wir. Anschließend sitze ich an meinem Schreibtisch und erledige das, was nach wie vor anfällt. Um halb eins essen wir mit einer Tischgemeinschaft zu Mittag. Nachmittags machen wir einen Spaziergang, manchmal kommen auch Besucher. Abends schaue ich meistens die ZDF-Nachrichten, dann lese ich und gehe gegen 10 Uhr ins Bett.

In einem Interview hat Ihre Frau erzählt, dass Sie immer noch viel am Schreibtisch sitzen. Was machen Sie dort?

Aus körperlichen Gründen bin ich in meiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt, das gilt insbesondere für Flüge. Aber der Kopf funktioniert noch einigermaßen. Briefe diktiere ich auf ein Tonband. Eine frühere Mitarbeiterin schreibt die Briefe ab und schickt sie mir zurück, so dass ich sie unterschreiben kann.

Was für eine Rolle spielt die Politik für Sie?

Ich werde häufig eingeladen, etwas zu schreiben, zum Beispiel zum 100. Geburtstag von Willy Brandt oder zum 95. von Helmut Schmidt. Ich habe auch einen großen Freundeskreis aus meiner aktiven Zeit, wobei ich mit dem Wort Freund eher sparsam umgehe. Es sind sechs oder sieben Menschen, die ich wirklich als Freunde bezeichnen würde. Mit anderen habe ich auch noch lebhaften Kontakt, dazu zählen Erhard Eppler und Klaus Bölling.

Hans-Jochen Vogel
  • Geboren am 3.2.1926 in Göttingen
  • Soldat im Zweiten Weltkrieg
  • Jura-Studium mit Promotion
  • Eintritt in die SPD mit 24 Jahren
  • OB von München 1960 bis 1972
  • Mitglied des Bundestags 1972 bis 1981 und 1983 bis 1994
  • Bundesminister für Bauwesen und Städtebau unter Willy Brandt von 1972 bis 1974, unter Helmut Schmidt Wechsel ins Justizressort (bis 1981)
  • Regierender Bürgermeister von West-Berlin 1981
  • SPD-Kanzlerkandidat 1983 bis 1991
  • Parteivorsitzender 1987 bis 1991

Warum gehen Sie sparsam mit dem Wort Freund um?

Eine Freundschaft bedeutet, dass man eine gründliche Kenntnis voneinander hat, schwierige Situationen miteinander bestanden hat und ein uneingeschränktes Vertrauensverhältnis da ist. Die Chemie muss stimmen.

Wie vertraut ist Ihnen der heutige Politik-Betrieb?

Inhaltlich stehen heute andere Themen im Vordergrund als zu meiner Zeit. Aber die Art und Weise, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, die ist mir durchaus vertraut. Wo ich völlig ausfalle, das sind die modernen Techniken. Ich habe weder Handy noch Internet. Wer mit mir korrespondiert, der muss mir einen Brief oder ein Fax schicken. Das hat auch Vorteile: Man sitzt nicht so viel vor so einem Gerät. Ich fremdele, wenn ich sehe, wie während der Kabinettssitzungen mit Handys operiert wird. Wäre ich noch Vorsitzender, dann würde ich bitten, dass man in jeder Stunde wenigstens für 45 Minuten die Handys beiseitelegt.

Macht Ihnen die Schnelligkeit der Kommunikation und der politischen Berichterstattung, die es heute gibt, manchmal Angst?

Sie geht mir manchmal auf die Nerven, weil Dinge von den Medien in der Geschwindigkeit nicht genügend beurteilt werden können. Wer nur zwei Stunden Zeit hat, ist in größerer Irrtumsgefahr als einer, der dafür ein oder zwei Tage verwenden kann. Auch die Versuchung, Ereignisse zu personalisieren oder zu skandalisieren, ist heute größer als früher.

CSU-Chef Horst Seehofer hat kürzlich in einem Interview mit dem "Spiegel" kritisiert, Politiker würden heute von Journalisten zu heftig angegangen. Wie sehen Sie das?

Es fällt mir schon auf, dass manche Journalisten auftreten wie Richter. Diese verhörmäßige Attitüde gefällt mir nicht. Die vierte Gewalt agiert da manchmal, als wenn sie die erste Gewalt wäre. Ich will aber nicht verallgemeinern, es gibt genügend andere, die das in einer sehr angemessenen Form tun und dennoch unangenehme Fragen stellen.

Welche Politiker der Gegenwart schätzen Sie besonders?

Zwei Brüder aus verschiedenen Parteien: Hans-Jochen Vogel ist in der SPD, Bruder Bernhard (r.) gehört der CDU an.

Zwei Brüder aus verschiedenen Parteien: Hans-Jochen Vogel ist in der SPD, Bruder Bernhard (r.) gehört der CDU an.

(Foto: imago stock&people)

Meinen Respekt bekunden kann ich Sigmar Gabriel. Während seiner Zeit in Niedersachsen war ich ihm gegenüber eher kritisch. Er schien mir da ein bisschen sprunghaft und unberechenbar. Doch dann hat er mich als Umweltminister beeindruckt, und auch jetzt als Parteichef macht er seine Sache sehr gut. In der Union mag ich den Bundestagspräsidenten Norbert Lammert. Die Sicht auf die CDU wird mir dadurch erleichtert, dass ihr mein Bruder Bernhard seit Anbeginn angehört. Wir sind da eine nichtalltägliche Erscheinung.

Eine politisch gespaltene Familie?

Nein, wir haben einen sehr brüderlichen Umgang und Übereinstimmungen in bestimmten Grundpositionen. Dass wir in einzelnen Fragen unterschiedliche Positionen einnehmen, daran haben wir uns gewöhnt.

Es gibt eine Episode aus den kürzlich abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen. Als Sigmar Gabriel darum gebeten hat, in den Vertrag zu schreiben, dass die Parteien sich noch nicht auf die Ressortaufteilung geeinigt hätten, soll Angela Merkel gesagt haben: "Ich lüge nicht." Später sagte Gabriel, es sei überhaupt noch nicht entschieden, ob die SPD das Finanzministerium bekomme. Würden Sie so ein Verhalten legitim nennen?

Es kommt vor, dass man unterschiedlicher Meinung darüber ist, was gesagt wurde. Das finde ich nicht so aufregend.

Unabhängig davon, ob Gabriel die Wahrheit gesagt hat: Die meisten Menschen gehen davon aus, dass die Intrige zur Politik gehört wie der Baum zu Weihnachten. Wie haben Sie den Umgang der FDP mit Philipp Rösler empfunden?

Das hängt davon ab, was Sie unter Intrige verstehen. Eine Intrige ist für mich immer mit einer gewissen Täuschung verbunden. Wenn etwa jemand in einer bestimmten Situation fallen gelassen wird. Im Fall Rösler handelt es sich für mich nicht um eine Intrige, sondern eher um mangelnde Fairness.

Ist der Fall Rösler ein typisches Beispiel in der Politik?

Es gibt bei Medien immer die Neigung, fast alles in der Politik ganz ungewöhnlich zu finden. Dabei gibt es in den eigenen Häusern häufig ähnliche Erscheinungen. Es ist natürlich eine Sondersituation, dass man als Politiker in diesem Maße öffentlich wahrgenommen wird. Wer ganz im Verborgenen arbeitet, hat manche Probleme nicht, die ein Politiker hat. Insofern würde ich Intrigen nicht als politiktypisch ansehen. Genauso wie in jedem Lebensbereich gibt es hier Menschen, mit denen man zufrieden ist, und andere, bei denen man enttäuscht ist. In meinem langen politischen Leben sind mir beide begegnet.

Bei der Bundestagswahl 1983 holte Vogel als SPD-Kanzlerkandidat 38,2 Prozent - zu wenig, um Helmut Kohl zu schlagen.

Bei der Bundestagswahl 1983 holte Vogel als SPD-Kanzlerkandidat 38,2 Prozent - zu wenig, um Helmut Kohl zu schlagen.

(Foto: imago stock&people)

Was war Ihre größte Enttäuschung?

Eine große Enttäuschung war das Verhalten von Oskar Lafontaine im Jahr 1999. Bis dahin hatte er gute Arbeit geleistet als Oberbürgermeister von Saarbrücken und als saarländischer Ministerpräsident. Mit dem Anschlag auf ihn ist er in beachtlicher Weise fertig geworden und auch zum Wahlergebnis von 1998 hat er beigetragen. Aber dann kam der andere Lafontaine, der von heute auf morgen alles hinwarf und dann - und das vermutlich nicht unentgeltlich - alle 14 Tage in der "Bild"-Zeitung die eigene Partei angegriffen hat. Das hat mich enttäuscht, aber auch empört.

Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Nein. Ich habe ihm damals einen Brief geschrieben, aber er hat darauf nicht geantwortet. Zum Reden ergab sich seitdem keine Gelegenheit mehr.

Wenn wir mal auf Ihre aktive Zeit in der Politik zurückschauen: Sie waren Oberbürgermeister von München, Bundesminister unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt, Regierender Bürgermeister in West-Berlin, Kanzlerkandidat und SPD-Chef - an welche Zeit denken Sie am liebsten zurück?

Die Frage ist schwierig. Jede Aufgabe hat mir Freude gemacht und hatte ihre besonderen Ereignisse. Während meiner Oberbürgermeisterzeit in München war das etwa der Beginn der U- und S-Bahn sowie die Olympischen Spiele. In meiner Ministerzeit konnte ich Helmut Schmidt mit meinen juristischen Argumenten bei der Überwindung der RAF-Aktivitäten helfen. In Berlin haben mein CDU-Konkurrent Richard von Weizsäcker und ich einen vorbildlichen Wahlkampf geführt. Es gab eine Linie für die Bewältigung der Hausbesetzungen, die dann von ihm fortgesetzt wurde. In Bonn galt es, die Partei nach der wenig überraschenden Niederlage 1983 wieder auf die Beine zu bringen, auch um später im Einigungsprozess einen wichtigen Beitrag leisten zu können.

Politische Weggefährten: Schmidt, Brandt und Vogel.

Politische Weggefährten: Schmidt, Brandt und Vogel.

(Foto: imago stock&people)

In diesem Jahr wäre Willy Brandt 100 geworden. Wie haben Sie ihn in Erinnerung behalten?

Er war eine der prägenden Gestalten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Neben ihm fällt mir höchstens noch Konrad Adenauer ein. Brandt war ein ganz besonderer Mensch. 14 Tage vor seinem Tod habe ich ihn nochmal besucht. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis, an das ich mich gerne erinnere.

Brandt würden Sie zu Ihren Freunden zählen?

Ich würde von einem freundschaftlichen Verhältnis sprechen. "Freund", das ist gegenüber einer solchen Persönlichkeit eine gewisse Inanspruchnahme, die ich vermeiden will.

Brandt trat 1974 infolge der Guillaume-Affäre als Kanzler zurück. War sein Rücktritt damals unvermeidbar?

Das hat mich sehr berührt. Ich erinnere mich noch an die Nacht, ich saß damals im Erich-Ollenhauer-Haus bei Holger Börner, der damals Bundesgeschäftsführer war. Ich glaube, Brandt hat für seine Person richtig entschieden. Es hätte sich über ihn eine Kampagne ergossen, insbesondere von der Zeitung mit den großen Buchstaben, die ihm sowieso viel zugemutet hat und ihn an der sinnvollen Wahrnehmung seines Amtes gehindert hätte.

Seit dem Rücktritt Brandts 1987 hatte die SPD zehn Vorsitzende, die CDU in dieser Zeit drei. Warum kommt Ihre Partei nicht zur Ruhe?

Ich war als Nachfolger Brandts immerhin vier Jahre SPD-Chef. Damals habe ich deutlich gemacht, dass ich zur nächsten Generation überleiten will. Aber dann kamen die aufeinanderfolgenden Wechsel sehr dicht. Jeder Vorsitzende konnte für seinen Rücktritt natürlich Gründe geltend machen, aber trotzdem tut das einer Partei nicht gut. Ich wünsche mir, dass Gabriel auf eine längere Zeit kommt.

Bei den letzten beiden Bundestagswahlen hat die SPD nur 23 beziehungsweise 25 Prozent geholt. Warum übt Ihre Partei heute auf viele Menschen keine Anziehungskraft mehr aus?

Es ist nach wie vor ein beachtlicher Prozentsatz. Aber ich will die Wahlergebnisse nicht schönreden, mir haben sie auch wehgetan, insbesondere das von 2009. Die Erklärung ist wohl die Agenda 2010. Hier gibt es ein merkwürdiges Spannungsverhältnis. Es ist nicht zu bestreiten, dass wesentliche Elemente der Agenda mit ursächlich sind für den guten wirtschaftlichen Zustand, in dem sich unser Land befindet. Aber manches hat damals die Emotionen in der Partei und der Wählerschaft getroffen. Das Hauptproblem war: In der Partei wurde über die Agenda vorher nicht intensiv und lang genug diskutiert. Das wirkt bis heute.

Und 2009?

Frau Merkel hat es verstanden, dass Menschen zu ihr nicht nur eine intellektuelle, sondern offenbar auch eine emotionale Beziehung empfinden. Nicht so wie zum Charisma eines Willy Brandt, sondern wie zu einer Mutter. Das hat ihr geholfen. Bei Peer Steinbrück ist die intellektuelle Leistung unbestritten, aber dieser emotionale Kontakt hat sich bei ihm nicht eingestellt.

Zu Beginn von Steinbrücks Kandidatur gab es die Debatte um seine Vortragshonorare. Passt es ins Bild, dass ausgerechnet ein SPD-Kandidat durch Vorträge so viel Geld verdient?

Das alles ist damals maßlos überhöht worden. Plötzlich wurde in den Medien gar nicht mehr über politische Grundfragen diskutiert. Ich habe nur in einem Punkt Fragen an ihn gehabt, das war das hohe Honorar bei den Stadtwerken Bochum. Als ehemaliger NRW-Ministerpräsident kannte Steinbrück die finanzielle Lage der Stadt. Das hat er später selbst als Irrtum eingestanden. Aber haben Politiker aus anderen Parteien nicht auch hohe Honorare bekommen?

Hans-Jochen Vogel 1966 beim Besuch eines Fußballspiels zwischen 1860 München und Borussia Dortmund - damals noch als Münchner Oberbürgermeister.

Hans-Jochen Vogel 1966 beim Besuch eines Fußballspiels zwischen 1860 München und Borussia Dortmund - damals noch als Münchner Oberbürgermeister.

Die SPD versteht sich doch als Partei des kleinen Mannes.

Ja gut, das ist ein weites Feld. Ich selbst wäre nicht in diese Verlegenheit gekommen.

Sie sind in Ihrer aktiven Zeit freiwillig Holzklasse geflogen und mit der Straßenbahn zum Münchner Rathaus gefahren.

Das hat mir nie Beschwerden bereitet. Mich hat es immer amüsiert, wenn ich anderen einen guten Flug wünschen konnte. Dass ich in München mit der Straßenbahn gefahren bin, lag auch daran, dass das Rathaus von meiner Wohnung aus gut zu erreichen war. Die Menschen haben mich während der Fahrt oft angesprochen. Das hat mir in mancher Beziehung geholfen.

Kommen wir noch einmal zurück zur Krise der deutschen Sozialdemokratie. Fehlt Ihrer Partei heute ein Mann wie Brandt?

Jeder Partei kann man die Frage stellen, ob ihr nicht große Männer aus der Vergangenheit heute fehlen. Aber niemand hat Anspruch darauf, dass immer eine solche Persönlichkeit zur Verfügung steht. Diejenigen, die heute in der SPD in der Verantwortung stehen, machen ihre Sache respektabel. Das gilt insbesondere auch für die Entscheidung über die Mitgliederbefragung zur Großen Koalition. Die Partei ist plötzlich in einer Art und Weise wochenlang öffentlich präsent, wie wir uns das vor der Wahl gewünscht hätten.

Warum hat sich die SPD so schwer damit getan, in die Große Koalition zu gehen?

Das ist doch nachvollziehbar. Man hat im Wahlkampf heftig gegeneinander gekämpft und nun schließt man mit denen eine Koalition. Dabei ist das nichts Neues, denn es ist schon die dritte Große Koalition. Bei der ersten von 1966 bis 1969 gab es auch eine große Erregung. Viele waren nicht damit einverstanden, dass man mit einem Mann wie Franz Josef Strauß zusammen am Kabinettstisch sitzen sollte. Die Jungen haben heute eines nicht vor Augen: Aus dieser Großen Koalition sind wir mit dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler hervorgegangen.

Mit Hans-Jochen Vogel sprach Christian Rothenberg

Quelle: ntv.de

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