Politik

Auf Wahlreportage in Deutschland "Ich verstehe nichts von Politik"

Hat in den vergangenen dreieinhalb Monaten viel dazugelernt: Julian Vetten

Hat in den vergangenen dreieinhalb Monaten viel dazugelernt: Julian Vetten

(Foto: Oscar Wellenstein)

Dreieinhalb Monate lang reiste unser Reporter Julian Vetten durch die Bundesrepublik, um mit Zufallsbekanntschaften über Politik zu sprechen. Sein ganz persönliches Fazit am Ende der Reise: alles andere als repräsentativ, aber sehr aufschlussreich.

Von Julian Vetten

Wie ticken die deutschen Wähler? Vor dreieinhalb Monaten habe ich mich auf den Weg gemacht, um zwischen Ostholstein und dem Bodensee, zwischen Dortmund und Eisenhüttenstadt eine Antwort auf diese scheinbar so simple Frage zu finden. Dass es nicht gelingen würde, die Sorgen und Wünsche aller 61,5 Millionen Wahlberechtigten abzubilden, war von vornherein klar - viel wichtiger war für mich aber ohnehin eine Art Reality Check: Sind die Themen, die von der Politik und den Medien beackert werden, tatsächlich auch die Themen, die die Menschen in Deutschland beschäftigen?

Die Antwort darauf: ein klares Jein. Während so gut wie jeder Gesprächspartner etwas zur Flüchtlingsdebatte beizutragen hatte, hatte ich das Gefühl, dass Außenpolitik allgemein die Menschen eher kalt lässt - die Trumps, Putins und Erdogans spielen in der Lebenswirklichkeit der meisten Deutschen nur eine untergeordnete Rolle. Was ich sonst noch in diesem Wahlsommer gelernt habe:

1. Die Mittelschicht ist schwer zu finden

Eigentlich war mein Plan ja ganz einfach: Ich wollte nur Zufallsbekanntschaften machen, nichts im Voraus planen. Dann, Anfang September, fiel mir auf, dass in der Reportagereihe eine Bevölkerungsgruppe völlig unterrepräsentiert war - die Mittelschicht. Was war da los? Hatte ich bislang einfach nur Pech gehabt, war ich nicht geduldig genug oder war die oftmals als Rückgrat der Bundesrepublik bezeichnete Gruppe mit Job und Familie so eingespannt, dass sie im öffentlichen Leben einfach weniger stattfindet? Nach meinem Gespräch mit Frieda - für das ich einen Termin ausmachen musste -  tippe ich auf Letzteres.

2. "Ich verstehe nichts von Politik"

Viele Menschen scheinen das Gefühl zu haben, sich keine Meinung zu bestimmten Themen erlauben zu dürfen. "Aber ich verstehe doch gar nichts von Politik" ist einer der Sätze, die unter Garantie im "Wahlreportage-Bingo" auftauchen würden. Dass Expertise in dem Fall völlig unerheblich ist, weil die Stimme eines Spitzenpolitikers an der Wahlurne genau so viel wert ist wie die einer Mechatronikerin, lassen die wenigsten als Argument gelten.

3. Merkel ist okay

Ganz egal, wie die eigene politische Einstellung aussieht: Die Bundeskanzlerin geht eigentlich fast immer. Natürlich macht vor allem die "Hau ab"-Fraktion Schlagzeilen. Zumindest im persönlichen Gespräch war ein "Die Merkel? Sterbenslangweilig!" aber das niedrigste der Gefühle. Viele meiner Gesprächspartner konnten zwar mit der Union wenig bis gar nichts anfangen, aber "die Merkel macht ihren Job schon ganz gut".

4. Politik ist Privatsache

"Würden Sie mit mir ein bisschen über Politik reden?" Während man in Ländern wie Spanien, Frankreich oder auch Australien - zumindest meiner persönlichen Erfahrung nach - im Anschluss nur noch den Block zücken und den folgenden Monolog mitschreiben muss, ist in Deutschland das Gespräch nach so einer Frage oft bereits vorüber, ehe es überhaupt begonnen hat. Hierzulande braucht es harte Überzeugungsarbeit, um die Menschen dazu zu bringen, ihre Meinung in der Öffentlichkeit kundzutun - sogar dann, wenn sie anonym bleiben können.

5. Viele Nichtwähler sind AfD-affin

Ein knappes Drittel der Deutschen geht nicht wählen. Würden sie es tun, würde ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Stimmen wohl auf die AfD entfallen. "Ich gehe ja nicht zur Wahl, aber wenn, würde ich die AfD wählen" ist der Satz, den ich nach "Ich verstehe doch gar nichts von Politik" in diesem Sommer am häufigsten gehört habe.

6. Kneipen sind der Tod der Filterblase

Wir lesen Nachrichten, die uns in unseren Ansichten bestätigen und sind mit Menschen befreundet, mit denen wir auf einer Wellenlänge liegen - so lautet, leicht verkürzt, die Definition der vielbesungenen Echokammern. Seit dem Siegeszug der sozialen Medien scheint sich das Problem zu verstärken. Dabei gibt es eine ganz einfache Lösung: Kneipen. In den meisten Bars, die ich in den vergangenen Monaten besucht habe (und es waren nicht wenige), haben Menschen aller Couleur durch den Austausch miteinander einen Blick über den Rand ihrer eigenen Filterblase geworfen - mit freundlicher Unterstützung des einen oder anderen Gläschens.

7. Leitkultur? Gibt es nicht!

Die Debatte um die deutsche Leitkultur hat den Wahlkampf in den vergangenen Monaten eng begleitet. Ich bin der Meinung: Es gibt sie gar nicht, die eine Leitkultur - und mache es am Kulinarischen fest: Wenn ich in Franken ein Weißbier bestelle, rollt die Kellnerin mit den Augen, während man im Rest von Deutschland nicht genau weiß, was ein Weizen sein soll. Ein Pfannkuchen ist in Berlin das, was im Süden ein Krapfen ist. Und wenn ich in Baden-Württemberg einen Broiler bestelle, ernte ich nur Unverständnis. Dass die Regionen neben den sprachlichen Feinheiten noch viel mehr unterscheidet, muss ich an dieser Stelle nicht extra erwähnen: Deutschland ist zu vielfältig, um einen allgemeingültigen Rahmen für eine Leitkultur aufzustellen - und das ist auch gut so.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen