Der Kriegstag im Überblick Kiew meldet heftige Kämpfe im Osten - Selenskyj für Austausch aller Gefangener
17.11.2022, 21:16 Uhr
Ein russischer Raketenwerfer im Süden der Ukraine.
(Foto: IMAGO/SNA)
Während die ukrainischen Streitkräfte von intensiven Gefechten im Donbass sprechen, setzt der Kreml den Raketenbeschuss auf die Infrastruktur fort. Der ukrainische Geheimdienst geht derweil davon aus, dass Moskau langsam an seine "militärischen Grenzen" gerät. Der 267. Kriegstag im Überblick.
Selenskyj schlägt Austausch aller Kriegsgefangenen vor
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj macht einen Austausch aller Kriegsgefangenen mit Russland zur Bedingung für die Wiederinbetriebnahme einer wichtigen Chemie-Pipeline. Bei einem Wirtschaftsforum äußerte er sich zur Zukunft der Ammoniak-Leitung von Togliatti an der Wolga in Russland nach Odessa in der Ukraine. Die mehr als 2400 Kilometer lange Leitung liegt seit Kriegsbeginn am 24. Februar still. "Wir wollen nicht mit Russland handeln, ihnen helfen - sie sind unser Feind", sagte Selenskyj nach Medienberichten in Kiew. "Wir könnten uns nur einigen, wenn sie vorher alle unsere Gefangenen gegen alle ihre Gefangenen austauschen."
Kreml: Friedensverhandlungen scheitern an Kiews Unzuverlässigkeit
Allerdings wirft das russische Präsidialamt der ukrainischen Regierung vor, durch ihr Verhalten Friedensverhandlungen im Wege zu stehen. Kiew sei unzuverlässig, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in einer Telefonschalte mit Journalisten. Die Ukraine habe ihre Positionen, ob sie überhaupt mit Moskau verhandeln wolle, mehrfach geändert.
Peskow forderte die USA auf, sich einzubringen. Diese seien in der Lage, Russlands Bedenken zu berücksichtigen. Und wenn Washington wolle, könnte es Kiew dazu bringen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Peskow betonte auch, eine Beteiligung an öffentlich geführten Verhandlungen sei für Russland nicht denkbar.
Ukraine meldet heftige Kämpfe im Osten
Nach Angaben des Generalstabs der ukrainischen Armee gab es in den vergangenen 24 Stunden heftige Gefechte in den östlichen Regionen Donezk und Luhansk. Angriffe auf sieben Städte, Dörfer und Siedlungen seien zurückgeschlagen worden. Die Kämpfe fanden demnach in Stelmachiwka und Bilohoriwka in der Oblast Luhanks und in Verchnokamianske, Soledar, Nevelske, Marinka and Pervomaiske in der Oblast Donezk statt.
Die ukrainische Armee habe zudem ein Hauptquartier in Melitopol und zwei Depots der russischen Armee zerstört. Ferner sei zivile Infrastruktur in der Stadt Saporischschja von russischer Seite beschossen worden. Russland habe vier Luftangriffe, sechs Raketenangriffe und 40 Angriffe mit Mehrfachraketenwerfern ausgeübt.
ISW sieht russischen Kampfgeist sinken
Die russische Armee hat nach Einschätzung der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) weiter mit massiven Motivationsproblemen zu kämpfen, insbesondere unter den mobilisierten Rekruten. So berichte das russische Nachrichtenportal "Astra" von rund 300 Männern, die im Bezirk Luhansk in einem Keller in der Ortschaft Zaitseve gefangen gehalten würden, weil sie sich weigerten, an die Front zu gehen. In Donezk und Luhansk unterhalte die Armee insgesamt sieben solcher Einrichtungen für Gefangene aus den eigenen Reihen. Berichte über mobilisierte Soldaten, die ohne Training und angemessene Ausrüstung in den Kampfeinsatz geschickt würden, gehen demnach unvermindert weiter.
London: Russland setzt schwindende Reserven für Zerstörung ukrainischer Infrastruktur ein
Nach Einschätzung des britischen Geheimdienstes zeigt sich die russische Führung bereit, für die Zerstörung der ukrainischen Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung ihre letzten Raketenbestände aufzubrauchen. Die Angriffe auf die Infrastruktur seien Kernziel der russischen Kampagne geworden, offenbar in der Hoffnung, den Widerstandsgeist der Ukrainer zu brechen und mehr Flüchtlingsbewegungen in Richtung Westeuropa auszulösen. Setze Russland aber die Attacken in dieser Größenordnung fort, habe das erheblichen Einfluss auf seine Reserven an konventionellen Marschflugkörpern.
Moskau gibt Ukraine Schuld an Stromausfällen
Russland bleibt trotz vieler Gegenbeweise bei der Behauptung, nur Infrastrukturobjekte mit einem militärischen Bezug mit Raketen anzugreifen. Die Folgen des Beschusses, den Ausfall von Strom und Heizung, habe sich die Ukraine selbst zuzuschreiben, weil sie nicht verhandeln wolle, sagte Kremlsprecher Peskow. Die "militärische Spezialoperation" in der Ukraine werde daher fortgesetzt, "und ihre Ziele müssen erreicht werden", sagte er russischen Nachrichtenagenturen zufolge.
Kiew wirft Russland vor, unter Verletzung des humanitären Völkerrechts und der Regeln der Kriegsführung zivile Infrastruktur und Wohnhäuser anzugreifen. Nach ukrainischen Angaben wurden heute erneut mehrere Städte mit russischen Raketen beschossen. Getroffen wurden demnach auch in der Stadt Dnipro und im Gebiet Saporischschja Objekte der Infrastruktur. Es habe Verletzte und Tote gegeben.
Ukrainischer Geheimdienst: "Russland gelangt an militärische Grenzen"
Nach Ansicht des Vizechefs des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Wadym Skibitsky, gerät Russland im Krieg gegen die Ukraine immer stärker unter Druck. "Ich glaube, Russland gelangt langsam an seine militärischen Grenzen", sagte er im Interview mit dem Portal "t-online". "Zumindest bei der Produktion neuer Waffensysteme ist die russische Industrie stark eingeschränkt." Das liege auch an den Strafmaßnahmen des Westens.
"Es ist der Erfolg der internationalen Sanktionen, dass die russische Militärproduktion enorm ausgebremst ist", sagte Skibitsky. Mit Blick gen Moskau hält er zudem einen baldigen Regimewechsel für möglich. "In Russland verstehen die Menschen allmählich, was vor sich geht", sagte er dem Portal. Ziel müsse nun sein, dass Russland keine Nuklearwaffen mehr besitze, forderte er. "Die einzige Lösung ist die Denuklearisierung des Putin-Regimes, um ihm die Fähigkeit zu nehmen, die Welt mit Atomwaffen zu erpressen", sagte Skibitsky.
Ukrainische Fachleute dürfen Einschlagskrater begutachten
Ukrainische Fachleute dürfen nach Angaben von Präsident Selenskyj der Untersuchung des Raketeneinschlags in Polen beiwohnen. Dazu sei die entsprechende Bestätigung aus Polen gekommen, sagt der Staatschef vor Teilnehmern eines Wirtschaftsforums. "Solange die Untersuchung nicht abgeschlossen ist, können wir nicht mit Sicherheit sagen, welche Raketen oder deren Teile auf polnisches Hoheitsgebiet gefallen sind", sagte er in Kiew.
Die Beteiligung ukrainischer Spezialisten an den Ermittlungen ist nach Aussage von Polens Präsident Andrzej Duda aber an die Vorschriften der internationalen Rechtshilfe gebunden. "Wenn Gäste aus der Ukraine die laufenden Ermittlungen anschauen möchten, dann wird es möglich sein, ihnen das zu zeigen, so wie es mir heute gezeigt wurde", sagte Duda. Die aktive Teilnahme an den Ermittlungen bedürfe aber vertragliche Grundlagen "im Sinne des internationalen Rechts und internationaler Abkommen".
Entgegen vorläufigen westlichen Erkenntnissen bleibt Selenskyj bei seiner Behauptung, dass am Dienstag eine russische Rakete in dem grenznahen Dorf Przewodow eingeschlagen sei. Der dort entstandene Krater sei zu groß, um nur von einer Flugabwehrrakete verursacht worden zu sein. Aber Selenskyj schränkte ein, dass er nicht mit hundertprozentiger Sicherheit wisse, was passiert sei.
Seit Kriegsbeginn 277 zivile Minenopfer
Durch Minen und explosive Munitionsrückstände sind in der Ukraine in diesem Jahr bereits fast fünf Mal so viele Menschen getötet worden wie im Vorjahr. In den ersten neun Monaten des laufenden Jahres gab es 277 zivile Opfer, wie aus dem Jahresbericht des Landminen-Monitors hervorgeht. Im vergangenen Jahr waren es 58 Menschen.
Seit Russland Ende Februar in die Ukraine einmarschiert ist, hat Moskau dem Bericht zufolge mindestens sieben Arten von Landminen eingesetzt. Demnach gebe es auch bestätigte Hinweise darauf, dass russische Truppen Sprengfallen und Sprengsätze in der Ukraine gelegt hätten, bevor sie sich zurückgezogen und Stellungen aufgegeben haben.
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Quelle: ntv.de, jpe/dpa