Nach Tragödie im Mittelmeer Kritik an Flüchtlingspolitik wird wieder lauter
19.04.2015, 17:45 Uhr
Rund 1000 Menschen starben in der vergangenen Woche auf der Flucht über das Mittelmeer.
(Foto: REUTERS)
Erneut müssen Hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer sterben, damit Brüssel sich mit einem Problem auseinandersetzt, das schon seit Jahren besteht. Und plötzlich überschlagen sich die Politiker erneut mit Lösungsvorschlägen.
Nach dem neuerlichen Flüchtlingsunglück im Mittelmeer mehren sich Forderungen nach einem Seenotrettungsprogramm. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, erklärte, es sei eine "Illusion" gewesen, die Einstellung "Mare Nostrum"-Programms werde die Menschen von der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer abhalten. Innenminister Thomas de Maizière will den Fokus hingegen auf den Kampf gegen Schlepperbanden legen. "Solch grausame Verbrechen erfordern eine europäische Antwort", sagte er.
Vor der libyschen Küste hat sich das bislang offenbar schlimmste Flüchtlingsunglück im Mittelmeer ereignet: Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR kenterte ein Trawler mit rund 700 Menschen an Bord. Lediglich 28 Flüchtlinge konnten demnach gerettet werden.
Ersten Erkenntnissen zufolge brachten die Flüchtlinge das überladene Boot in der Nacht zum Sonntag vermutlich selbst zum Kentern. Sie hatten einen Notruf abgesetzt, woraufhin der portugiesische Frachter "King Jacob" zur Hilfe eilte. Als dieser sich näherte, stürmten die Migranten alle auf eine Seite des Bootes. "Wahrscheinlich ist der Frachter in die Nähe des Bootes gefahren. Die Bewegung der Flüchtlinge hat das Boot dann zum Kentern gebracht", sagte Carlotta Sami, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR.
De Maizière gegen Seenotrettung
Özoguz erklärte, es sei zu befürchten, dass mit den wärmeren Temperaturen in den kommenden Wochen und Monaten noch mehr Schutzsuchende über das Meer kommen werden. "Deshalb müssen wir endlich die Seenotrettung wieder auflegen." Ein neues Seenotrettungsprogramm ist in der großen Koalition umstritten. De Maizière hatte es kürzlich mit der Begründung abgelehnt, dies sei Beihilfe für die Schlepper.
Auch nach dem erneuten Unglück bezeichnete er die Bekämpfung von Schlepperbanden als "zentralen Punkt". Hier müsse die Zusammenarbeit intensiviert werden, forderte de Maizière. "Wir brauchen nicht nur eine gemeinsame europäische Strategie, sondern auch eine bessere Verzahnung der Außen-, Innen und Entwicklungspolitik in und zwischen den Mitgliedsstaaten ebenso wie mit den Herkunfts- und Transitstaaten."
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl forderte de Maizière auf, seinen Widerstand gegen ein neues Rettungsprogramm aufzugeben. Ihr Geschäftsführer Günter Burkhardt sagte, Menschenleben müssten gerettet werden. "Es ist völlig egal, ob dadurch Schlepper profitieren."
"Mehr Stabilität nach Libyen bringen"
Ähnlich wie de Maizière äußerte sich jedoch auch SPD-Chef und Vizekanzler Gabriel. Die europäischen Polizei- und Grenzbehörden müssten mit "aller verfügbaren Kraft" den Kampf gegen kriminelle Schleuserbanden aufnehmen, die mit dem Elend von Menschen Geschäfte machten, forderte Gabriel. "Wir brauchen einen internationalen Einsatz gegen Schlepperbanden."
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier forderte im ARD-"Bericht aus Berlin": "Wir müssen versuchen, mehr Stabilität nach Libyen zu bringen." Nur stabile Verhältnisse dort könnten verhindern, dass Libyen weiterhin von den Schleppern und Schlepperorganisationen benutzt werde.
Die Opposition fordert hingegen ebenso wie Pro Asyl ein europäisches Programm zur Seenotrettung. "Erneut hunderte Tote im Mittelmeer sind eine Schande für Europa und uns alle", erklärte Grünen-Chefin Simone Peter. "Denn was wir dieser Tage erleben, ist eine Katastrophe mit Ansage." Benötigt werde eine umfassende europäische Seenotrettungsmission und sichere Zugangswege nach Europa.
Die EU müsse "die Seenotrettungsoperation unverzüglich und in größerem Umfang als früher wieder aufnehmen", sagte Linken-Fraktionschef Gregor Gysi dem "Tagesspiegel" vom Montag. Es sei "katastrophal und absolut inhuman", dass das frühere Programm eingestellt worden sei.
Die EU-Kommission zeigte sich erschüttert über die Flüchtlingstragödie: "Die Europäische Union als Ganze hat eine moralische und menschliche Pflicht zu handeln." Solange es Krieg und Armut in der europäischen Nachbarschaft gebe, würden Menschen einen sicheren Zufluchtsort in Europa suchen. Deshalb sei es wichtig, mit den Herkunfts- und Transitländern zusammenarbeiten. Mitte Mai werde die Kommission ein Strategiepapier zur Migrationspolitik vorlegen. Europa brauche rasche Antworten, um weitere Todesopfer zu vermeiden.
Frankreichs Staatspräsident François Hollande forderte mehr Überwachungsboote im Rahmen von "Triton", einer EU-Mission zur Seenotrettung von Flüchtlingen und zum Grenzschutz auf dem Mittelmeer. Die Menschenschmuggler verglich er mit Terroristen.
Quelle: ntv.de, bdk/AFP/dpa