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Lehren der Sicherheitskonferenz Wolodymyr, übernehmen Sie!

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Der ukrainische Präsident Selenskyj in München im Gespräch mit der US-Delegation um Vizepräsident Vance und Außenminister Rubio.

Der ukrainische Präsident Selenskyj in München im Gespräch mit der US-Delegation um Vizepräsident Vance und Außenminister Rubio.

(Foto: picture alliance / SvenSimon-ThePresidentialOfficeU)

In Woche zwei des Februars scheint die Welt aus den Fugen geraten. Im Auge des Orkans - die Münchner Sicherheitskonferenz als Treffpunkt für Staats- und Regierungschefs, Militärs, Entscheider aus der ganzen Welt. Was bleibt von der MSC mitten im Umbruch?

Die Wertegemeinschaft mit den USA scheint Geschichte

Nein, US-Vizepräsident J.D. Vance läutete am Tag 1 der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) nicht das Ende der Ukraineunterstützung ein. Er hat keinen Truppenabzug aus Europa verkündet und auch nicht den nuklearen Schutzschirm zugeklappt. All diese - begründeten - Befürchtungen hat Vance nicht wahr gemacht, aber war seine Botschaft deshalb weniger alarmierend?

"Auf den Fluren im Bayerischen Hof in München spaltete sich die Meinung dazu in zwei Camps", sagt Sicherheitsexpertin Ulrike Franke ntv.de. "Eine Lesart war, es hätte alles viel schlimmer kommen können", etwa mit konkreten Entscheidungen wie oben erwähnt. "Ich gehöre eher zum zweiten Camp, das Vance' Kritik für deutlich problematischer hält als eine harte andere Position in Verteidigungsfragen. Sein Fazit war, 'wir sind uns nichts mehr wert'."

Vance rügte die europäischen Partner in überheblicher Manier, man entwickle sich antidemokratisch, die Meinungsfreiheit sei in Europa auf dem Rückzug. Er appellierte an die Staatenlenker, die Politik der USA zu übernehmen. Eine Politik, die sich seit Beginn der zweiten Amtszeit Donald Trumps eindeutig rechtspopulistisch gebärdet. Werdet wie wir, dann schützen wir euch weiter - so die Botschaft der USA zwischen den Zeilen.

Nach Lesart von Franke und vielen Kollegen steuert die Wertepartnerschaft der USA mit den Europäern auf ihr Ende zu oder hat es womöglich bereits erreicht. Eine zukünftige Zusammenarbeit wird sich auf andere Säulen stützen müssen, wirtschaftliche liegen nahe. Oder aber die Europäer übernehmen ihre Sicherheit mittelfristig selbst - was wohl ein Projekt für Jahrzehnte wäre.

Aus der Schockstarre am Freitag entstand keine Aufbruchstimmung

Nach einer derart kalten Ansage des bisher wichtigsten Nato-Partners kann man für den Rest des Tages erstmal baff sein. Aber nach einer Mütze Schlaf müsste der Weg nach vorn schon sichtbar werden, allein, weil die Zeit so sehr drängt. Die Münchner Konferenz ließ das nicht erkennen. Der Eindruck der Rede von J.D. Vance schwebte ein Wochenende lang über dem Bayerischen Hof, aber sorgte nicht für Aufbruchstimmung oder wenigstens Pragmatismus.

Die MSC, die sich rühmt, ihr Programm erst auf den letzten Drücker festzuzurren, um aktuelle Entwicklungen einzubeziehen, hat keine Sonderpanels zusammengestellt, um die neue Lage zu besprechen. Wäre aber nicht genau das nötig gewesen?

So wurde das schon vorher überstrapazierte Bild vom "Weckruf" weitere hundert Male bemüht, ohne dass man nach dem Aufwachen wirklich aktiv wurde. Zugegeben ist die Lage kompliziert. Doch das entbindet die Verantwortlichen nicht von Entscheidungen. Denn ein schneller Rückzug der USA von der Partnerschaft birgt akute Gefahren. "Etwa von der Satellitenaufklärung der USA ist Europa stark abhängig", sagt der Politologe Rafael Loss. "Es waren US-Nachrichtendienste, die 2022 den Angriff der russischen Streitkräfte vorhersagten. Wenn diese amerikanischen Fähigkeiten fehlen würden, das wäre ein wirklich großes Problem."

Das Zwei-Prozent-Ziel ist sowas von 2024

Die EU- und Nato-Länder neigen von Hause aus nicht zur Einigkeit, doch in folgender Frage scheinen sie d'accord: Die Notwendigkeit, als Nato-Staat zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Verteidigung zu stecken, ist überholt. Spätestens seit den US-Aussagen dieser Woche ist klar geworden: Europa sollte beim Thema Sicherheit besser nicht auf die USA bauen.

Daraus folgt zwingend: Das Ausgaben-Ziel der Nato muss neu justiert werden. Bis das geschehen ist, etwa auf dem nächsten Gipfel im Sommer in Den Haag, sollten die Mitglieder schon mal etwas mit drei vorne anpeilen. Denn es gilt, nicht nur wieder auf Augenhöhe mit den Fähigkeiten der Russen zu kommen, sondern mittelfristig womöglich auch den Teil der USA zu übernehmen. Zwei Mammut-Aufgaben gleichzeitig, das wird nicht billig.

Olaf Scholz ist schon im Abklingbecken - gut für Merz

J.D. Vance griff in seiner Rede am Freitag speziell die Bundesregierung scharf an und warf der deutschen Politik vor, Angst vor der eigenen Bevölkerung zu haben. Es sei kein Platz für eine "Brandmauer", gemeint war die Weigerung der demokratischen Mitte, mit der in Teilen rechtsextremen AfD zusammenzuarbeiten.

Bundeskanzler Olaf Scholz, am Freitag noch im Wahlkampf, reagierte auf Vance' Tiraden, doch gehört wurden vor allem die Repliken von anderen: Neben Verteidigungsminister Boris Pistorius reagierte auch CDU-Chef Friedrich Merz mit robuster Kritik am "fast schon übergriffigen Umgang" und dem Zusatz, das habe er Vance "auch ganz deutlich gesagt". Merz hatte den ranghöchsten US-Vertreter zum Gespräch getroffen, Scholz nicht, der kam erst tags drauf überhaupt an.

Der Kanzler wirkte in München schon wie im Abklingbecken schwimmend. Eine passable Rede am Samstag, von der jedoch nichts hängenblieb. Ganz anders als vor drei Jahren mit der Zeitenwende-Rede im Bundestag. Im Vergleich dazu war Kanzlerkandidat Merz der deutlich präsentere deutsche Politiker. Als habe sich ein zu erwartender Wechsel auf der internationalen Bühne bereits schleichend vollzogen.

Kann Selenskyj den EU-Anführer machen? Wir haben grad' keinen

In Zeiten enormer Herausforderungen reicht es nicht, diese scharf zu analysieren. Wenn man aber ins Handeln kommen möchte, dann hilft ein Treiber, der das Tempo vorgibt. Der war in München nicht zu sehen. Der französische Präsident Emmanuel Macron, Großbritanniens Regierungschef Keir Starmer - eigentlich zwei Nato-Schwergewichte, aber in diesem Jahr nicht mal angereist.

Am Montag treffen sich europäische Staats- und Regierungschefs in Paris zu einem Ukraine-Sondergipfel. Man will noch einmal ringen um Einbindung in die geplanten Verhandlungen in Riad. Doch München hätte schon starke Signale senden können und müssen - Richtung Moskau und Richtung Washington. Die hätte aber jemand setzen müssen.

Die kraftvollste Rede von München hielt der Mann, der als einziger mit dem Rücken zur Wand stand: Wolodymyr Selenskyj, Präsident eines Landes unter feindlichem Feuer. Mit streitbaren Forderungen, eindringlichen Appellen und der Warnung, "Russland wird euch zerreißen". Ein Staatslenker dieses Kalibers ist in der EU derzeit nicht sichtbar. Dabei würde er dringender gebraucht denn je.

Die Ukraine wird sich nicht billig verkaufen

Selenskyj hielt nicht nur die stärkste Rede, er demonstrierte auch sonst einen breiten Rücken. Mag die Lage an der Donbassfront noch so prekär sein: Die Ukrainer sind nicht zu allem bereit, um westliche Hilfe zu sichern. So lehnte er in München nach eigenen Angaben die Unterzeichnung eines Abkommens ab, das die Lieferung wichtiger ukrainischer Rohstoffe an die USA festschreiben sollte. Den vorgelegten Vertrag hält Selenskyj nicht für gut, da er "uns nicht schützt", so die Begründung. Eine Lieferung etwa über seltene Erden hat der ukrainische Präsident zwar selbst in seinem sogenannten "Siegesplan" vorgeschlagen, aber im Gegenzug erwartet er Sicherheitsgarantien. "Bisher habe ich das nicht gesehen", sagte Selenskyj. Das lässt erwarten, dass man auch am Verhandlungstisch in Riad ein selbstbewusster Gesprächspartner sein wird.

Relevanz nimmt zu, Gesprächsbereitschaft nimmt ab

Als transatlantisches Forum wird die Konferenz in den kommenden Jahren nötiger sein denn je. In angespannter Lage darf der Gesprächsfaden zwischen den USA und ihren europäischen Partnern nicht abreißen. Die neue Situation macht die MSC also relevanter, aber gleichzeitig auch viel schwieriger zu händeln. Denn die Europäer kommen zwar verlässlich nach München, aber werden auch die Amerikaner weiter dabei sein?

Ulrike Franke hat sich in München mit vielen Kongressleuten oder Mitgliedern des US-Senats getroffen. "Das ist dann aber oftmals die alte Garde - traditionelle Transatlantiker oder aber Trumpisten, die abwiegeln, nach dem Motto "Nothing to see here, please move on", sagt Franke. "Das 'Macht euch keine Sorgen' hab ich hier zu viel gehört. Das ist nicht hilfreich." Entscheidend wird sein, dass nicht nur die Amerikaner kommen, die ohnehin proeuropäisch denken, sondern auch die kritischen - derzeit die relevanten. Wenn das einer schaffen kann, dann ist es Jens Stoltenberg. Als ehemaliger Nato-Generalsekretär hat sein Ruf maximales Gewicht, mehr kann Europa nicht aufbieten, um Washington ins Gespräch zu holen. Heute übernahm er den MSC-Chefposten (auch wenn er übergangsweise noch Finanzminister in Norwegen ist). Man darf gespannt sein auf München 2026.

Quelle: ntv.de

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