Politik

Vision einer Stadt ohne Russen "Mariupol ist mein Blut, mein Gefühl und meine Familie"

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Früher arbeitete Alewtina Schwezowa als Lokaljournalistin in Mariupol, heute koordiniert sie kulturelle Projekte rund um den Wiederaufbau der Stadt.

Früher arbeitete Alewtina Schwezowa als Lokaljournalistin in Mariupol, heute koordiniert sie kulturelle Projekte rund um den Wiederaufbau der Stadt.

(Foto: Alewtina Schwezowa)

Mariupol ist ein Symbol des ukrainischen Widerstands. Nach 86 Tagen heftiger Gefechte um das Stahlwerk Asowstal fällt die Stadt im Donbass 2022 in die Hände der Russen. So fern der Tag sein mag: Die geflohenen Bewohner schmiedeten Pläne für ihre Rückkehr, erzählt eine von ihnen.

ntv.de: Seit mehr als drei Jahren ist Mariupol unter russischer Kontrolle. Falls es wieder befreit wird, wollen Sie und andere Vertriebene die Stadt zum Sinnbild einer neu aufgebauten Ukraine machen. Das Projekt heißt "Mariupol Reborn". Was verbinden Sie mit der Stadt?

Alewtina Schwezowa: Vor der Tragödie 2022 habe ich mein ganzes Leben in Mariupol verbracht. Mariupol ist mein Blut, mein Gefühl und meine Familie. Ich habe als Journalistin für den lokalen Fernsehsender MTV gearbeitet. Meine Sendung hieß "Ort der Kraft" - es ging um lokale Identitäten, Geschichte und Architektur. Ich denke, jeder Mensch in Mariupol hat einen besonderen Ort, der ihm Kraft gibt - sei es ein Wohnhaus, eine Schule oder ein Park. Das Haus, in dem meine Familie wohnte, befand sich in der Nähe das Mariupol Drama Theaters, das die Russen am 16. März 2022 bombardierten. Am selben Tag zerstörte eine russische Bombe unser Haus.

In diesem Haus in Mariupol lebte Schwezowa Familie, bis russische Bomben es im März 2022 zerstörten.

In diesem Haus in Mariupol lebte Schwezowa Familie, bis russische Bomben es im März 2022 zerstörten.

(Foto: Alewtina Schwezowa)

Sind Sie sofort geflohen?

Ja, unsere Familie musste zu Fuß aus Mariupol fliehen. Zunächst ging ich gemeinsam mit meinem Mann, seiner Großmutter und unserem gemeinsamen Sohn. Am nächsten Tag kehrte ich in die Stadt zurück, um meine Eltern und meinen Bruder zu retten. Anschließend lebte ich mit meiner Familie sechs Monate in einem Dorf nahe Krywyj Rih. Als auch dieses Dorf angegriffen wurde, zogen wir nach Lwiw um. Ich bin noch immer in Kontakt mit vielen Freunden in Mariupol, die ich durch meine Arbeit im Kultursektor kennengelernt habe. 2021 war Mariupol ukrainische Kulturhauptstadt. Meine Freunde haben viele Veranstaltungen organisiert.

Was passierte nach ihrer Flucht?

Nach der Tragödie mussten auch meine Freunde aus der Stadt fliehen. Als ich in Lwiw war, riefen sie mich an und schlugen vor, Ausstellungen über Mariupol zu starten. So entstanden mehrere Kunstprojekte, etwa eine Ausstellung mit Porträts von Kindern, die in Mariupol gestorben sind. 2023 wurde die Plattform "Mariupol Reborn" ins Leben gerufen. Es ist ein gemeinsames Projekt des vertriebenen Stadtrats von Mariupol, das er gemeinsam mit dem Stadtrat von Lwiw, der Weltbank, dem Unternehmer Rinat Achmetow und anderen Unterstützern organisiert. Ich arbeite in dem Projekt als Koordinatorin für kulturelle Initiativen. Die Plattform möchte eine Vision davon schaffen, wie der Wiederaufbau von Mariupol nach der russischen Besatzung aussehen könnte. Außerdem helfen wir den Vertriebenen, die in verschiedene ukrainische Städte geflohen sind.

Sie glauben also fest daran, dass Mariupol von den Russen befreit wird?

Das ist mein Traum. Wissen Sie, in meinem Herzen und meiner Seele wird Mariupol immer ukrainisch bleiben. Ich will auch in Lwiw etwas für meine Heimatstadt tun, und zwar heute. Im Krieg wissen wir nie, was morgen geschehen wird. Aber natürlich bin ich mir über die geografischen Tatsachen im Klaren. Besonders grausam finde ich, wie die Russen Mariupol für ihre Propaganda benutzen. Die Russen haben die Stadt zerstört und die Menschen dort getötet. Jetzt wird in der russischen Propaganda der große Wiederaufbau gefeiert. Diese Lügen verbreiten sie nicht nur in den besetzten Gebieten, sondern in ganz Europa. Und Menschen, die niemals in der Ukraine waren, glauben daran. Ich will die russische Propaganda um Mariupol mit meinen Projekten kontern.

Aber die Leute, die in Mariupol geblieben sind, kennen die Wahrheit, oder?

Es gibt Leute in Mariupol, die gesehen haben, wie die Russen ihre Nachbarn ermorden. Und jetzt behaupten dieselben Leute: Die Ukrainer würden töten. Ich weiß, dass das nicht wahr ist. Diese Leute haben den falschen Weg gewählt. Wir leben in verschiedenen Blasen. Ich vertrete eine starke ukrainische Position. Aber ich kann die anderen nicht überzeugen. Denn die Leute in Mariupol müssen unter der russischen Besatzung diese Lügen verbreiten. Sie dürfen nicht die Wahrheit sagen. Sie dürfen die ukrainische Flagge nicht zeigen. Damit würden sie ihr Leben in Gefahr bringen.

In Ihrem Projekt veranstalten Sie auch Diskussionsgruppen mit Vertriebenen aus anderen russisch besetzten Gebieten. Über welche Traumata sprechen Sie mit ihnen?

In der Ukraine zu leben, ist jetzt äußerst gefährlich. Mariupol ist nicht die einzige Tragödie. Es gibt unzählige russische Verbrechen. Jeden Tag töten die Russen ukrainische Kinder. Es tut mir im Herzen und in der Seele weh. Unsere Kulturprojekte beschränken sich deshalb nicht nur auf Mariupol. Es geht um Geschichten aus Bachmut, Berdjansk, Nikolajew, Charkiw und von der Krim. Ich sehe das Mitgefühl in den Augen der Menschen, wenn ich hier in Lwiw meine Geschichte erzähle. Das ist wichtig für mich. Ich will den Menschen die Wahrheit über meine Heimatstadt vermitteln. Meine Heimatstadt brennt. Und niemand weiß, wie lange noch.

Mit Alewtina Schwezowa sprach Lea Verstl

Quelle: ntv.de

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