Politik

Brüssel unter Beschuss Mit einem Kanzler Kickl würde Österreich zum EU-Risiko werden

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Gestartet als Redenschreiber von Jörg Haider verhandelt Herbert Kickl nun mit der ÖVP über eine Regierung - unter seiner Führung.

Gestartet als Redenschreiber von Jörg Haider verhandelt Herbert Kickl nun mit der ÖVP über eine Regierung - unter seiner Führung.

(Foto: picture alliance / HELMUT FOHRINGER / APA / picturedesk.com)

Mit FPÖ-Chef Kickl könnte bald schon ein ausgewiesener EU-Skeptiker Bundeskanzler Österreichs sein. Anders als bei der Italienerin Giorgia Meloni ist von Kickl keine konstruktive Mitarbeit zu erwarten.

Österreich treibt Europas Staats- und Regierungschefs Sorgenfalten auf die Stirn. Ausführlich sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Kanzlerkandidaten-Bewerbungsrede über die akut drohende Machtübernahme der FPÖ. Frankreichs Staatsoberhaupt Emmanuel Macron warnte vor dem Vorrücken einer internationalen Rechten. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez kündigte eine diplomatische Offensive gegen das Erstarken von rechts an.

Doch es sind nicht nur sozialdemokratische und liberale Politiker, die sich Sorgen machen. Zeigt doch das Beispiel Österreich, wie fragil Brandmauern sein können, wie durchlässig der Cordon Sanitaire ist, wie schnell Ausgrenzungsstrategien zusammenbrechen: Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) hatte sich im Wahlkampf noch klar von der FPÖ als rechtsextremer Partei distanziert. Nun könnten die Konservativen FPÖ-Chef Herbert Kickl zum Kanzler wählen.

Das treibt auch die EU-Kommission um. Sie bereitet sich auf mehr und stärkeren Gegenwind vor, der ihr zusätzlich aus Österreich droht. Zwar ist der ehemalige österreichische Außenminister Alexander Schallenberg, seit ein paar Tagen Interims-Bundeskanzler, am Montag extra nach Brüssel geflogen, um zu versichern, Österreich werde weiter ein verlässlicher Partner sein. Dem zu glauben, erscheint mit Blick auf Kickl allerdings mehr als gewagt.

Mehr Orbán als Meloni

"Im Wahlprogramm von Kickl kam die EU ausschließlich negativ vor", sagt Robert Treichler im Gespräch mit ntv.de. Er ist stellvertretender Chefredakteur beim Wochenmagazin "Profil" und zusammen mit seinem Kollegen Gernot Bauer Autor des Buchs "Kickl und die Zerstörung Europas", das im vergangenen Jahr im Wiener Zsolnay-Verlag erschienen ist. "Zwar will er Österreich nicht aus der EU herauslösen, wichtig ist ihm aber, Kompetenzen aus Brüssel zurückzuholen und den Nationalstaaten wieder zu übergeben."

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Weiter ist Kickl ein vehementer Kritiker des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichts für Menschenrechte. Auf dieser Aversion gründet auch sein Satz: "Das Recht muss der Politik folgen und nicht umgekehrt." Den Wunsch, der EU nur noch Aufgaben und Kompetenzen zu überlassen, die sie besser als die einzelnen Staaten anpacken könnte, hatte auch Giorgia Meloni, Italiens rechte Premierministerin, in ihren Wahlankündigungen hervorgehoben. Im Amt aber suchte sie die Nähe zu EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Ist Kickl mit Meloni vergleichbar? Oder doch eher mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán? "Kickl ähnelt dem ungarischen Premier sicher mehr als die Italienerin Meloni", sagt der Wiener Politikprofessor Peter Filzmaier ntv.de. "Kickl verwendet die EU als Reibbaum und wird daher anders als Meloni in der EU-Politik wenig Interesse an konstruktiven Kompromissen im allgemeinen Interesse - also nicht nur 'wenn für Österreich etwas dabei herauszuschlagen ist' - haben."

Vor 20 Jahren "Rechter Aufbruch"

Robert Treichler und Gernot Bauer betonen in ihrem Buch über Kickl, dass Österreich Wiege und Motor des Rechtspopulismus in Europa ist. Weiter erfährt man, dass die FPÖ bereits 2005 zehn rechtsradikale Parteichefs aus sieben Ländern nach Wien eingeladen hatte, um über ein Projekt "Rechter Aufbruch" zu diskutieren.

Grundlage hierfür war ein vom FPÖ-Ideologen Andreas Mölzer verfasstes Manifest. Zu den wichtigsten Punkten zählten: das Nein zur Globalisierung, die Warnung vor einem zentralistischen EU-Superstaat und die Forderung, die Einwanderung sofort zu stoppen.

Zwanzig Jahre später gibt es im EU-Parlament die Patrioten für Europa, die die drittstärkste Fraktion bilden. Auch den "Patrioten" liegt ein Manifest zugrunde, das vor den EU-Wahlen von Kickl, Orbán und dem ehemaligen tschechischen Premier Andrej Babiš verfasst wurde. In diesem geht es um Ablehnung von Migration, ein Nein zum Green Deal, keine Unterstützung der Ukraine, Rückbau der europäischen Integration zugunsten der einzelnen Nationalstaaten.

Verbale Entgleisungen sollen normal werden

Kickls Kampfansagen vor und während des Wahlkampfs lauteten: "Bevölkerungsaustausch verhindern", "gescheitertes Experiment Integration", "Festung Österreich", "katastrophaler Grenzansturm von 2015".

Für besonders viel Aufsehen sorgte in Deutschland vor einem Jahr der Begriff "Remigration". "Der Begriff wurde vom Österreicher Martin Sellner, Kopf der Identitären, in die politische Debatte eingebracht", erklärt Treichler. "Er hat auch ein Buch dazu geschrieben und bei dem Treffen Ende November 2023 in Potsdam gesagt, man müsse versuchen, den Begriff Remigration so oft wie möglich zu verwenden, um ihn in den normalen Sprachgebrauch zu überführen."

Was genau mit dem Begriff gemeint ist, ob nur die Rückführung von Migranten ohne Asylrecht, sprich Aufenthaltsgenehmigung, oder regelrechte Deportationen auch von Menschen mit Bleiberecht, wird bewusst vage gehalten. In Potsdam war Berichten zufolge die Rede davon, dass auch deutsche Staatsbürger deportiert werden sollen.

Kickl meinte zu diesem Thema: "Ich verstehe die Aufregung über das Wort Remigration nicht." Und genauso verwundert gab sich Alice Weidel am Sonntag, als sie von den AfD-Delegierten zur Kanzlerkandidatin gewählt wurde. Auch sie versteht die Empörung angeblich nicht. Noch vor einem Jahr hatte sie sich von einem Mitarbeiter getrennt, der beim Migrationstreffen von Potsdam dabei war. Die Grenze des Sagbaren hat sich für Weidel seither offensichtlich verschoben.

Apropos rechtsextremes Vokabular: Ohne in der Vergangenheit herumstöbern zu müssen, kann man sich auf die Gegenwart beschränken, denn auch diese gibt viel ab. So stößt man zum Beispiel auf Kickl-Sätze wie "Die Identitäre Bewegung ist eine patriotische NGO" und auf Kickls Wunsch, "Volkskanzler" zu werden.

Letzterer gilt als Begriff aus der Nazizeit. Politologe Filzmaier weist jedoch darauf hin, dass "Volkskanzler" keine formale Bezeichnung, sondern ein propagandistischer Begriff ist: "Dieser wurde - das muss man korrekterweise sagen - in Österreich auch schon von der SPÖ zu ihrer Kanzlerzeit verwendet." Richtig sei aber auch, dass "'Volkskanzler' im deutschen Duden auch ein Begriff für Adolf Hitler war".

Wenn die kritische Masse erreicht ist

Als Meloni italienische Regierungschefin wurde, wechselte sie von einer aggressiven Rhetorik zu einer etwas bedachteren. Vor allem mit Blick auf die EU. Ob es so einen Wandel auch bei Kickl geben wird, sei schwer zu sagen, meint Treichler: "Seine Ziele und seine politischen Absichten sind völlig unzweifelhaft. Er wirkt auf uns alle, die wir ihn lange erlebt haben, nicht wie ein Zyniker, der einfach irgendwas sagt, nur um an die Macht zu kommen, sondern sehr überzeugt in seiner Ablehnung vieler Teile der Europäischen Union und von allem, was er für links hält."

Was mit einem Bundeskanzler Kickl wirklich auf die EU zukommen wird, wird schon das Thema Sanktionen gegen Russland zeigen. Kickl hat sie immer wieder als einen "Knieschuss" bezeichnet, dessen Folgen die Bürger tragen müssten. Unwahrscheinlich, dass er sich als Regierungschef von dieser Haltung distanziert. Es wäre auch schwierig für ihn, so eine Wende vor seinen Wählern zu rechtfertigen.

Wenn sich aber Österreich den EU-Ländern anschließt, die einen strikten Anti-EU-Kurs fahren, wie Ungarn, die Slowakei und Tschechien, "kommt ein weiterer Puzzlestein hinzu, und irgendwann ist die kritische Masse erreicht", sagt Treichler.

Auch Politikforscher Filzmaier hebt dieses Risiko hervor. Freilich könne man auch EU-Gegner und Befürworter der Nationalstaaten sein, meint er. Eine Organisation vertrage aber in ihrer internen Struktur nur eine geringe Zahl von Akteuren, die gegen sie große Vorbehalte haben. Bei vielen Gegnern würde die Handlungsfähigkeit der EU gefährlich eingeschränkt.

Quelle: ntv.de

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