Berlin Tag & Macht Mossad, Meinung, Moralgewitter: Friedrich Merz im Stadtbild-Tsunami


Warteschlange vor einem Louis-Vuitton-Shop in Frankfurt am Main. Was das mit dem Stadtbild macht, darüber spricht mal wieder niemand.
(Foto: picture alliance / imageBROKER)
Friedrich Merz, Stadtbild, Designer-Handschuhe und Politik als Catwalk: Zwischen GNTM, politischem Wahnsinn und medialer Empörung prallen Boulevard, Inszenierung, Diskurs und Moral aufeinander. Und was sagt eigentlich der größte Volksphilosoph der Nation?
Endlich kommt mir im Rahmen dieser inzwischen zur Pflichtlektüre im Regierungsviertel gewordenen leitpolitischer Richtungskolumne meine Historie in der Fashion-Branche zugute. Bislang war sie eher hinderlich. Wenn man nämlich in den vergangenen 15 Jahren mehr Zeit mit Thomas Hayo bei "Germany's Next Topmodel"-Finalen als mit Nikolaus Blome bei Bundespressekonferenzen verbracht hat, wird einem mitunter die Qualifikation für erkenntnisübermittelnde Polit-Kolumnen abgesprochen. Hübsche Frauen mit adäquaten Gedanken zum Zustand unserer Gesellschaft, die gibt es doch gar nicht. Da ist man sich an den Stammtischen der Nation einig.
Jedenfalls an den Stammtischen, an denen man auch sofort zu wissen glaubte, was Friedrich Merz mit "Stadtbild" gemeint hatte: zu viele Menschen mit Migrationshintergrund auf unseren schönen Plätzen, im maroden ÖPNV und in den nurmehr aus Handyläden, Dönerbuden und Starbucks bestehenden Einkaufsstraßen. Orte, die einst strahlten, von goldenen Konsumzeiten erzählten und als Freizeitkulisse ausschließlich unserem unbescholtenen Regionalnachwuchs vorbehalten waren. Die anderen, die machen nämlich nur Ärger, diese jungen Männer, die alle gar nicht mehr wie Boris Becker aussehen oder wenigstens wie Til Schweiger. Das weiß jeder. Also, jeder, der auch glaubt, wenn man den Menschen nur konsequent genug das Bürgergeld kürzt, würden in Deutschland endlich wieder globale Milliardengoldgruben wie Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia oder Tesla gegründet.
Von GNTM bis Gendarmenmarkt: Catwalk der Kolumnistinnen
Ausländer raus und Frauen an den Herd. Knapp 30 Prozent der wahlberechtigten Deutschen würden dieser These aktuell nicht vollständig widersprechen. Stichwort Herd: Mit "hübsche Frauen" meinte ich natürlich nicht mich, denn ich bin nicht nur Deutschlands wichtigste Polit-Kolumnistin, sondern auch sehr bescheiden. Ich meinte selbstredend die jungen Damen, die seit 20 Saisons zuverlässig per Reichweitenrelevanz-Tsunami aus dem GNTM-Kosmos in die Boulevard-Redaktionen der Qualitätspresse gespült werden.
Heute jedenfalls verschafft mir mein Mode-Hintergrund endlich amtliche Standortvorteile im hart umkämpften journalistischen Analysedschungel. Diese Woche nämlich gab es so viele heiße Eisen, dass ein paar qualitätssichere Handschuhe unerlässlich schienen. Und da empfehle ich als die Anna Wintour der Polit-Journaille dieser Tage die "LV Monogram Shearling Mitts" von Louis Vuitton. Knallharte Sujets, stylisch angepackt. Muss man sich allerdings leisten können, denn ein Paar dieser Handwärmer-Klassiker des Pariser Luxuswarenunternehmens kostet stolze 920,00 Euro. Immerhin fast 10 Prozent des Budgets für Jens Spahns nächstes 9999-Euro-Spendendinner.
Wie ich lernte, den Mossad zu lieben
Für mich persönlich ist das zweitrangig. Zum einen würde ich an einem Dinner mit Jens Spahn höchstens teilnehmen, wenn jemand mir dafür 9999 Euro zahlen würde. Zum anderen ist Geld mir egal, seit ich über Instagram-Accounts einiger "From the River to the Sea"-Vordenker erfahren konnte, dass ich pro Tweet, in dem ich Israel nicht dämonisiere, 7000 Euro vom Mossad kassiere. Ich habe mir also acht Paar "LV Monogram Shearling Mitts" zu je 920 Euro gekauft - und das nur für die Tweets von Mittwoch. So bin ich nun für den Umgang mit den heißen Eisen dieser Woche deutlich besser aufgestellt als vergleichbare Top-Politkolumnisten wie Robin Alexander (Welt), Jan Fleischhauer (Focus), Melanie Amann (Funke), Markus Feldenkirchen (Spiegel) oder Harald Glööckler (Nius).
Entsprechend gelassen konnte ich auf die Newsflash-Straßenfeger der vergangenen Tage schauen. Da hätten wir zum einen Friedrich Merz, der von seiner Stadtbild-Prognose nicht abrücken wollte und penetranten, linksgrünversifften Dauernörglern aus der Nachfrageszene letztendlich sogar nahelegte, sie sollten doch mal ihre Töchter befragen, die würden ihnen das dann schon erläutern. Nun bin ich auch eine Tochter, mein Vater hat mich allerdings bisher leider nicht zu meiner Sicht auf das aktuelle Stadtbild befragt. Dabei gäbe es einiges zu berichten über die Verhaltensweisen der schwedischen Barkeeper, britischen Touristen, Münchner Großindustriellen und Grunewalder BWL-Studenten, die sich in Berlin-Mitte zwischen Borchardt, Grill Royal und The Curtain Club im Ritz-Carlton rumtreiben.
Friedrich Merz im Nachrichtendilemma: Stadtbild lieber mehr ntv lesen
Schade. Mein Vater interessiert sich offensichtlich nicht so sehr für einen Stadtbild-Abgleich zwischen der Realität, die Friedrich Merz auf dem Gendarmenmarkt wahrnimmt, und meiner. Semiya Şimşek wurde von ihrem Vater auch nicht nach ihrer Sicht auf das deutsche Stadtbild gefragt. Das lag allerdings nicht daran, dass sich Enver Şimşek, ihr Vater, nicht dafür interessieren würde. Sondern daran, dass Enver Şimşek am 11. September 2000 mitten in Deutschland von Mördern der neonazistischen terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) erschossen wurde. Die Haupttäter hießen Uwe, noch mal Uwe und Beate. Semiya war damals 14 Jahre alt.
Um den ganzen Scheindiskussionen rund um Deutungshoheiten zum Diskursfokus Stadtbild ein wenig Realitätsnähe zu geben, sollte diese Geschichte vielleicht öfter erzählt werden. Und wie Deutschland als Gesellschaft und als Staat seinerzeit mit den NSU-Morden umgegangen ist. Das würde auch den Protagonisten der verfehlten Woke-Wahrhaftigkeit gut zu Gesicht stehen. Denn die stets gut geölten Motoren der Empörungs-Industrie schalteten nach der Töchter-Ausflucht von Friedrich Merz umgehend in den höchsten Gang und erläuterten der Nation in altbewährter Manier, wie sie denn nun auf diesen vermeintlichen Kanzler-Fauxpas zu reagieren hätte.
Für mich ist es immer wieder faszinierend, mit welch unerschütterlicher Überzeugung zumeist gutsituierte, gut ausgebildete, weiße Frauen sich vor CDU-Zentralen stellen und offenbar tatsächlich glauben, man könne durch das Skandieren der Feststellung, Friedrich Merz wäre ein Rassist, auch nur einen einzigen AfD-Wähler davon überzeugen, demnächst dann doch mal wieder die Grünen zu wählen.
Philosophie der Fehlprognosen
Neues gab es diese Woche aber glücklicherweise auch vom Kanzler der hochintellektuellen Meinungsfreiheits-Ultras: Richard David Precht. Der Macher von "Sebastian Kurz wird Österreich länger regieren als Fidel Castro Kuba" und "Moskau würde Kiew in vier Tagen einnehmen" präsentierte dem sehnsüchtig auf seine neuesten Prophezeiungen wartenden Volk ein weiteres Kleinod der politischen Elite-Vorhersagung: Österreich ist vor Russland sicher. Aufatmen bei den Ösis und Hoffnung für die knapp 735 Millionen Resteuropäer und -Europäerinnen, dass Precht sich zeitnah auch zum Verhältnis der weiteren 46 europäischen Staaten zu Russland äußern wird. Niemand, den ich kenne, kann sich wirklich sicher fühlen, bis der Premium-Nostradamus der zeitgenössischen Jahrhundertphilosophie ihm nicht versichert hat, Wladimir Putin hätte an seinem Land kein Interesse.
Vielleicht ist das ja die neue deutsche Leitkultur: gut frisiert empört sein, bis der nächste Shitstorm das Stadtbild umdekoriert. Wer sich dann in der kommenden Woche um den Baba-Wanga-Award für die hellseherischste Glanzleistung des neuesten Sieben-Tage-Zyklus bewerben wird, das verrate ich kommenden Donnerstag direkt hier. Vielleicht berichte ich sogar auch darüber, ob Richard David Precht, der Mario Basler der Gegenwartsphilosophie, inzwischen eine Erklärung dafür gefunden hat, warum bei Markus Lanz abseits von ihm gelegentlich auch noch andere Talkgäste eingeladen sind. Sein Sequel-Bestseller "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele dürfen denn hier noch sitzen?" schreibt sich dann völlig von alleine. Bis dahin gehe ich jetzt erstmal raus, das Stadtbild im Regierungsviertel inspizieren. Vielleicht erkennt Friedrich Merz mich ja. Oder wenigstens meine LV-Handschuhe.
Quelle: ntv.de