"Ich habe Schiss" Nahles probt bei Re:publica den Spagat
03.05.2016, 21:14 Uhr
Fast sämtliche Plätze besetzt: Die Halle am Berliner Gleisdreieck.
(Foto: dpa)
Die SPD sucht nach ihrer neuen Mitte. Andrea Nahles ist schon da - sie besetzt das Kernthema Arbeit offensiv. Auf der Digitalkonferenz Re:publica gibt sich die Ministerin kämpferisch. Fehler der Vergangenheit will sie nicht wiederholen.
Das Arbeitsministerium beschreibt in seinem "Grünbuch", das der Ausgangspunkt für das Arbeit-4.0-Konzept ("Weißbuch") im Herbst sein soll, die unterschiedlichen Stufen industrieller Erwerbsarbeit.
- Arbeit 1.0 - Ende 18. Jahrhundert
Anfänge der Industriegesellschaft, erste Organisationen von Arbeitern - Arbeit 2.0 - Ende 19. Jahrhundert
Beginn der Massenproduktion, Anfänge des Wohlfahrtsstaates - Arbeit 3.0 - Ab Beginn der 1970er Jahre
Globalisierung, Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft - Arbeit 4.0 - heute und in Zukunft
Vernetztes Arbeiten, Auswirkungen auf Organisation von Arbeit und sozialer Sicherung, neue Aushandlung zwischen Individuen, Sozialpartnern und Staat
Andrea Nahles spielt mit offenen Karten, direkt zu Beginn, stehend auf der Bühne. "Ich habe mich gar nicht vorbereitet", sagt die Arbeitsministerin. Ein sympathisierendes Raunen geht durch den ehemaligen Paketumschlagplatz am Berliner Gleisdreieck. "Ich habe mehr Schiss als, sagen wir, vor einem Gespräch zum Missbrauch von Werkverträgen." Für die SPD-Politikerin ist die einstündige Fragerunde zum Thema "Arbeit 4.0" ein wichtiger Auftritt. Es geht um ihr zweites großes Projekt nach dem Mindestlohn: den Rahmen der Arbeitsgesetze an die Realität anzupassen. Im Herbst will sie dazu ein ein umfassendes Konzept vorlegen.
Die Besucher der Re:publica sind kein durchweg klassisches sozialdemokratisches Klientel, die Konferenz ist Treffpunkt für Startups, Selbstständige, Digital Natives, Künstler und Kreative. Fast alle Plätze in der Gründerzeithalle sind gefüllt. Lichtstrahler leuchten vom Boden aus die geziegelten Wände und stählerne Dachkonstruktion an. Auf einer Hochtrasse rollen U-Bahnen über die Halle hinweg.
Der erste Fragende nimmt neben der Ministerin Platz. Er möchte wissen, wie sie in Zukunft mit Co-Working Spaces umgehen will, also Gemeinschaftsbüros, wo Freiberufler sich einen Schreibtisch mieten. Nahles antwortet mit dem Negativbeispiel Call Center. Sie macht deutlich, was sie nicht will: "Es gibt diese miefigen, lichtlosen Buden, wo die Menschen 14 Stunden pro Tag schuften."
Schnell kommt Nahles auf eine Studie zu sprechen, der zufolge die Hälfte der Bürger klare Regeln gut fänden, "die klassische Position": feste Arbeitszeiten, Recht auf Nichterreichbarkeit, eine sichere Rente. Der anderen Hälfte sei das nicht flexibel genug. "Wir müssen das vereinbaren, ohne die sozialen Sicherungen aufzugeben." Es ist eben jener Widerspruch, der den Sozialdemokraten zu schaffen macht. Während die Umfragewerte der SPD im Keller bleiben, justiert die Partei ihr Kernthema Arbeit neu. Und Nahles ist der Nukleus.
Veränderte Realität
Nahles war stellvertretende Bundesvorsitzende, dann Generalsekretärin, nun steht sie an der Spitze des Arbeitsministeriums. In ihrer Amtszeit wurde der Mindestlohn eingeführt. Es war ein Eingeständnis, Schwarz auf Weiß. Die Realität hat sich geändert. Gewerkschaften sind längst nicht mehr Andockpunkt für alle Arbeitnehmer - in vielen Berufsgruppen sind sie nicht präsent genug, um Löhne zu verhandeln. Je mehr sich die Struktur des Arbeitsmarktes weg vom produzierenden Gewerbe bewegt, desto vielfältiger werden die Beschäftigungsmodelle.
Nahles präsentiert sich engagiert und eloquent, sie duzt, auch wenn andere siezen; sie scherzt, kichert, wird aber wieder bestimmt, wenn es um die Sache geht. Dann kommt häufig ihre linke Sozialisierung durch: "In den letzten 15 Jahren wurden vor allem die Flexibilitätsansprüche der Unternehmen bedient", sagt sie kritisch. Nun müsse es um die Vielseitigkeit für Beschäftigte gehen, um gleitende Arbeitszeiten etwa, die in den meisten Firmen nicht möglich seien. Und: "Ein Drittel der Arbeitnehmer, die gerne mobil arbeiten würden, dürfen es nicht."
Unter den Augen aller vollführt Nahles den Spagat, den sie zuvor selbst beschrieben hat. Sie und die SPD wollen sich nicht für die eine oder die andere Seite entscheiden. Es ist nicht der einzige Gegensatz.
Wie etwa passt das Ziel Vollbeschäftigung zusammen mit wegfallenden Arbeitsplätzen und Berufen durch Automatisierung? Solche Veränderungen habe es bei jedem Umbruch gegeben, wägt Nahles ab. "Auflösen kann ich den Widerspruch nicht. Wir müssen nur einen Weg finden, dass es diesmal nicht so viele Verlierer geben wird." Die Kritik aus dem Publikum: Die Bundesregierung habe keine Vorstellung davon, wie die Arbeitswelt in fünf Jahren aussehen werde, es fehle offensichtlich ein ressortübergreifender Plan. "Ja, wir werden immer wieder von den Ereignissen überrollt", gibt Nahles zu - und verweist auf das Konzept, das im Herbst aus ihrem Ministerium kommen soll.
Nach Ende des Bürgerforums und ein paar Terminen bei Unternehmensständen läuft Nahles durch den Hof zum Ausgang, zwischen vollbesetzten Strandstühlen und Fotobus, Wurst-Schwenkgrill und Pommesbude hindurch. "Das war super für mich", sagt sie - und fährt davon.
Quelle: ntv.de