Interview mit Nico Semsrott "Die da oben machen sich die Regeln selbst"
08.06.2024, 09:22 Uhr Artikel anhören
"Teilweise bin ich nicht zufrieden mit dem, was da steht", sagt Semsrott über sein Buch.
(Foto: picture alliance / dts-Agentur)
Der Satiriker und Kabarettist Nico Semsrott rechnet in seinem Buch "Brüssel sehen und sterben" mit seinen Erfahrungen als EU-Abgeordneter ab. Es ist eine anschauliche Erzählung über Machtmissbrauch, Intransparenz und Ohnmachtsgefühle. Stellenweise grenzt sie an Populismus. Im Interview zeigt sich Semsrott selbstkritisch.
ntv.de: Sie schreiben in Ihrem Buch, Sie seien vor Ihrem Einzug ins Europaparlament naiv gewesen. War das, was Sie dort erlebt haben, die pure Enttäuschung?
Nico Semsrott: Die pure Enttäuschung würde ich es nicht nennen. Es war mit sehr viel Enttäuschung verbunden. Das Lustige ist, dass ich diese Enttäuschung bei meinen Besuchergruppen noch mal durchlebt oder zumindest in den Gesichtsausdrücken der Besucher gesehen habe. Ich habe vor ihnen die Enttäuschung, die ich in fünf Jahren erlebt habe, auf 45 Minuten komprimiert. Das war für viele eine harte Packung. Die große Überraschung liegt darin, zu erfahren, wie anders die Regeln für die ganz oben sind, und dann zu sehen: Wow! Diese Gesellschaft ist extrem ungerecht. Ich werde kontrolliert. Ich muss mich an Regeln halten. Die da oben machen sich die Regeln selbst. Die haben sehr lasche Regeln und verzichten häufig auf Kontrollen. Das ist der Kern der Enttäuschung.
Die Arbeit im Parlament hat Ihre Depression ausgelöst. Sie beschreiben Ihre Ohnmachtsgefühle als Abgeordneter. Wie geht es Ihnen jetzt?
Gut. Es ist nicht nur Licht am Ende des Tunnels, sondern ich bin einen Meter davor, aus dem Tunnel herauszutreten. Ich habe jetzt das Gefühl, dass ich mit meinen Talenten wieder das machen kann, was mir liegt. Vorher war ich am falschen Ort. Jetzt kann ich reden, Sachen kritisieren und auf den Punkt bringen. Das liegt mir viel mehr, als in einer zehnstündigen Verhandlung zu sitzen und zu warten, dass ich auch mal kurz etwas sage, was dann folgenlos bleibt.
Sie sind anfangs für die Partei "Die PARTEI" angetreten. Dann sind Sie ausgetreten, nachdem Partei-Kollege Martin Sonneborn einen Witz gemacht hatte, den Sie als rassistisch empfanden. Wie finden Sie die Partei heute?
Ich versuche es auf einen Satz zu bringen: Muss ein Witz, der zehn Jahre lang erzählt wird, noch fünf weitere Jahre erzählt werden?
Das gab es noch nie:
Exklusiv und zur besten Sendezeit diskutieren die Vorsitzenden der sechs großen deutschen Parteien die Ergebnisse der Europa- und der Kommunalwahlen.
- Friedrich Merz
- Lars Klingbeil
- Omid Nouripour
- Christian Lindner
- Alice Weidel
- Sahra Wagenknecht
Moderiert wird diese einmalige Runde von ntv-Politik-Chef Nikolaus Blome.
Schalten Sie ein: ntv, Sonntag, 9. Juni, 20:15 Uhr
Sowohl Sonneborn als auch Sie kritisieren die EU als Satiriker scharf, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Schaden Sie damit der EU nicht mehr, als dass Sie ihr nützen?
Politiker und Politikerinnen folgen bestimmten Ideen. Die vertreten die Leute, die sie gewählt haben. Das haben wir beide auf unsere Weise gut gemacht. Es haben 900.000 Menschen Die PARTEI gewählt. Die wollten mit Martin Sonneborn und mir Aufmerksamkeit in ein von der Öffentlichkeit schlecht beobachtetes Parlament schicken. Es gibt Probleme wie Intransparenz und Korruption. Gegen die gehen wir auf unsere Art vor. Eine Erfahrung, die ich als Künstler gemacht habe, ist, dass ich Ideen raussende und die Leute unterschiedliche Dinge damit machen. So empfinde ich das auch als Politiker, wenn ich mir die Kommentare auf Youtube und Social Media angucke.
Der Vorwurf, Satiriker im EU-Parlament seien die Totengräber der Demokratie, stimmt also überhaupt nicht?
Die AfD will das ganze System abschaffen. Die PARTEI oder Satirepolitiker wohl nicht. Ich finde, die Debatte wird nicht mehr so geführt wie vor fünf Jahren. Damals war es noch ein entspannter Debattenraum im Vergleich zu heute. Da konnte man noch mit Spaß diskutieren. Aber wenn die Rechtsextremen und Rechten bei 20 oder 30 Prozent europaweit stehen, dann diskutiert keiner mehr ernsthaft darüber, dass Satire-Politiker das Problem sind.
Sie betonen in Ihrem Buch, dass Sie die EU für eine gute Idee halten. Beim Lesen fällt allerdings auf, dass Sie einige pauschale Urteile fällen. Wo ziehen Sie die Linie zwischen Kritik an der EU und populistischer Europafeindlichkeit?
Ich würde an der Stelle Selbstkritik äußern und sagen: Im Buch ist mir an einigen Stellen nicht gelungen, das komplexe Bild vollständig zu beschreiben. Das lag daran, dass ich mittendrin aufgegeben habe, das Buch selbst fertig zu schreiben. Hätte ich ein Jahr mehr Zeit gehabt, wäre das besser geworden. Das Buch ist aus einer dunklen Phase meines Seins entstanden, voller Wut, Trauer und Enttäuschung. Teilweise bin ich nicht zufrieden mit dem, was da steht. Ich kriege das jetzt in den Interviews und in meinem Bühnenprogramm auf Youtube besser hin.
Während Ihres Mandats haben Sie den Eindruck gewonnen, von der Verwaltung des Parlaments in Ihrer Arbeit absichtlich eingeschränkt worden zu sein. Können Sie Beispiele dafür nennen, wie Sie darauf kommen?
Ich kriege es nicht hin, die zwölf Seiten, die den konkreten Konflikt beschreiben, in drei Sätzen zu erklären. Ich glaube, das Justiziariat vom Verlag hat das Kapitel besonders gut geprüft. Deswegen werde ich keinen Versuch unternehmen, mich jetzt angreifbarer zu machen. Es ist nur so, dass die Verwaltung im Europäischen Parlament von Parteien bestimmt wird. In den letzten 25 Jahren haben die CDU, CSU und ihre europäischen Schwesterparteien sowie die SPD und ihre europäischen Schwesterparteien die gesamte Verwaltung bestimmt. Entsprechend sind alle Spitzenbeamten entweder Konservative oder Sozialdemokraten. Das sind meine politischen Gegner. Die wollen keine Transparenz.
Was hat die Verwaltung denn gemacht?
Es ist häufiger so gewesen, dass ich etwas eingereicht habe und die Verwaltung erst gesagt hat: Ja, das passt. Viele Monate später hat sie mir gesagt: Es geht doch nicht. Das finde ich ein merkwürdiges Verhalten. So kann eine Verwaltung nicht arbeiten. Die muss sich an Regeln halten und kann nicht einfach so sagen: Nö, jetzt, nach einem Jahr, sind wir plötzlich anderer Meinung. Das ist ein komplettes Willkürsystem. Ich muss mich als Politiker darauf verlassen können, dass die andere Seite die Anträge prüft. Sonst stelle ich mir die Frage: Was mache ich da? Das ist das beste Beispiel dafür, wie politisch die Verwaltung ist: Sie interpretiert je nach Lage den gleichen Fall anders.
Sie beklagen auch Intransparenz und Korruption im EU-Parlament: Die mangelnde Kontrolle der Abgeordneten lade zum Betrug ein. Einige Politiker, die aus Ihrer Sicht korrupt sind, nennen Sie namentlich. Haben Sie von denen Reaktionen auf Ihr Buch bekommen?
Ich beklage die generelle Korruptionsanfälligkeit. Die Loopholes sind so groß, dass jeder Abgeordnete da gemütlich durchspazieren kann. Es gibt keine wirksamen Kontrollen. Ohne Kontrolle gibt es keine Strafen. Ich habe keine Belege für Korruption. Ich sage nur, es gibt viele verdächtige Nebentätigkeiten und Beschäftigungsverhältnisse. Dementsprechend ist mein Vorwurf nicht, dass da irgendjemand korrupt ist. Meine Frage ist: Warum bestehen die Konservativen darauf, dass potenzielle Korruption ermöglicht wird? Das finde ich merkwürdig. Mein Fazit: Bei so viel Dunkelheit muss die Dunkelziffer hoch sein.
Könnten Sie konkreter werden?
Wie funktioniert das Abgeordnetendasein? Wir haben die ganze Zeit Treffen mit Lobbyisten, die werden nicht automatisch überwacht. Man muss die Treffen zwar angeben. Aber wer soll das kontrollieren? Ob man die Treffen angibt oder nicht, ist in der Praxis freiwillig. Wenn ein Verstoß auftritt, wird das nicht transparent gemacht, sondern heimlich bestraft. Aber niemand kriegt es mit. Dieses System lädt zum Machtmissbrauch ein, auch bei der Reisekostenerstattung. Wenn man da beim Missbrauch erwischt wird, ist die höchste Strafe eine Rückzahlung. Es gibt Leute, die fragen: Ja, aber warum sollten Abgeordnete das missbrauchen? Meine Frage ist umgekehrt: Warum sollte diese Missbrauchsmöglichkeit erlaubt sein?
Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, während Ihres Mandats für mehr Transparenz zu sorgen. Haben Sie sich damit zu viel vorgenommen?
Na ja, im kleinen Rahmen habe ich es geschafft. Ich habe mir rückblickend viel zu viel vorgenommen. Unterschätzt habe ich, wie mächtig ein System ist, wie mächtig die Verwaltung ist und wie klein meine Gestaltungsmöglichkeit ist - als Hinterbänkler einer nicht so großen Fraktion in einem nicht so mächtigen Parlament.
Warum treten Sie bei der kommenden Europawahl nicht mehr an?
Weil ich alles versucht habe, was mir mit meinem Psychogramm und mit meinen Talenten möglich war. Ich habe mich in dieser Rolle ohnmächtig gefühlt. Ich hatte das Gefühl, fest gekettet zu sein. Ich glaube, dass ich mehr bewirken kann außerhalb eines Parlaments. Ich kann mit meiner Kunst-Figur bessere Impulse in die Gesellschaft senden, als wenn ich drin bin in so einem Apparat.
Mit Nico Semsrott sprach Lea Verstl
Quelle: ntv.de