Politik

Schottland: Noch ein Tag Rachel kämpft gegen den Wahnsinn

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Schottischer und britischer Patriotismus passt für viele Schotten gut zusammen.

(Foto: picture alliance / dpa)

So euphorisch einige Schotten das Referendum herbeisehnen, so viel Angst macht es den anderen. In Panik laufen sie von Tür zu Tür, um das Schlimmste zu verhindern. Ein Nachmittag mit der "Better Together"-Kampagne.

Wenn der Wahnsinn einmal um sich gegriffen hat, lässt er sich nicht mehr zurückdrängen. Ian klopft darum heute nur an jede zweite Tür. "Wir besuchen die, die zu einem 'Nein' tendieren", sagt er. Der Rentner hat keine Zeit, sich zu streiten. Er will möglichst viele Wohnungen schaffen an diesem Nachmittag. Mit dem Fahrstuhl fährt er in das oberste Stockwerk, dann arbeitet er sich von Etage zu Etage nach unten. Eine junge Frau in Jogginghose öffnet. Sie war lange unentschlossen, hat sich nun aber dafür entschieden, in Großbritannien bleiben zu wollen. Gut so. Ian macht einen Haken auf seinen Zettel, schenkt der Frau ein "No"-Plakat für ihr Fenster und hastet wieder zur Treppe.

Das Wichtigste zum Referendum

Die Schotten schreiben am 18. September womöglich Geschichte: Mit einem kleinen Kreuz können sie darüber entscheiden, ob ihr Land nach mehr als 300 Jahren Zugehörigkeit zu Großbritannien ein eigener Staat wird oder britisch bleibt. Lesen Sie hier die wichtigsten Texte, Reportagen und Interviews zum Referendum von n-tv.de:

Die Schotten sind kurz davor, einen eigenen Staat zu gründen. Vor wenigen Wochen war noch eine deutliche Mehrheit dagegen. Doch jetzt, kurz vor dem Referendum, liegt in den Umfragen mal die eine, mal die andere Seite vorne. Wer das Vereinigte Königreich vor dem Zerreißen bewahren möchte, muss jetzt etwas tun. "Jedes Mal werden es mehr", sagt Rachel, die für die "Better Together"-Kampagne in Edinburgh Hausbesuch-Nachmittage wie diesen organisiert. Sie wartet auf der Straße, bis Ian und die anderen fertig sind, führt sie zum nächsten Block und teilt jedem ein Haus zu. "Plakate bewirken nichts", sagt sie. "Nur der direkte Kontakt bringt die Leute ins Wahllokal."

In Großbritannien ermitteln die Parteien durch Telefonbefragungen, wo ihre Wähler wohnen. Jetzt, in der Endphase des Wahlkampfes, geht es "Better Together" darum, die eigenen Leute bei der Stange zu halten. "Die 'Yes'-Kampagne macht einen sehr aggressiven Wahlkampf", sagt Rachel. "Wir müssen dagegenhalten."

Wenn die Freiwilligen aus den Häusern kommen und sich wieder auf dem Bürgersteig versammeln, erzählen sie davon, wie fassungslos sie das alles macht. Was wird aus dem Gesundheitssystem? Was aus den Pensionen? Mit welcher Währung soll man künftig bezahlen? Und wird die BBC auch noch aus Schottland berichten? Was für Risiken ihre Landsleute da eingehen wollen! So viele offene Fragen, so wenig sichere Antworten von der Regionalregierung, die viele hier als "sozialistisch" bezeichnen. Ian sorgt sich außerdem um die Sportförderung, andere um die Kultur, die Wissenschaft.

Was soll das alles?

Die Gegend, in der das "Better Together"-Team heute unterwegs ist, macht einen ruhigen und sauberen Eindruck. Aus den gläsernen Aufzügen der Neubauten schaut man auf teure Autos. Die Leute hier haben etwas zu verlieren. In den Umfragen zeigt sich, dass vor allem Rentner, die Mittelklasse und die Oberschicht gegen die Unabhängigkeit sind.

Rachel gehört nicht dazu, aber sie engagiert sich schon lange in der Labour-Partei, war einmal Mitarbeiterin eines Abgeordneten im britischen Parlament. "Was soll das alles? Was soll das Gerede, man würde sich in Westminster nicht für uns interessieren?", fragt sie aufgebracht. "Der letzte Premierminister war sogar Schotte." Die Scottish National Party, die das Referendum durchgesetzt hat, erinnert sie an die rechtspopulistische Ukip. Radikal, platt, aggressiv. "Die kommen in unser Quartier und schreien uns an", sagt sie. Auf Twitter gibt es immer wieder Berichte von Pöbeleien. Wer sein Fenster mit einem "No"-Plakat schmückt, muss damit rechnen, dass ein Stein hineingeworfen wird, erzählt ein Freiwilliger. Das würde erklären, warum es so wenige davon in der Stadt gibt, während man die blauen "Yes"-Schilder überall entdecken kann. "Ich finde nicht, dass die eine gute Kampagne machen", sagt Rachel. "Und ich glaube auch nicht, dass es funktioniert."

Allerdings ist die "Yes"-Kampagne wesentlich besser aufgestellt. Seit mehr als zwei Jahren sammeln die Mitglieder spenden, organisieren Veranstaltungen und vernetzen sich. Eine ganze Reihe an "Yes"-Shops gibt es in Edinburgh. Einige sehen aus wie Souvenirläden mit Tassen, Postern und ganzen T-Shirt-Kollektionen. "Better Together" haust in einem schmucklosen Quartier, eingerichtet nur mit ein paar Computern und Klapptischen.

Wie rettet man sein Geld?

Die Kampagne muss aufholen, aber sie tut sich schwer. Ihr fehlt die Emotion, die Leidenschaft, der Patriotismus, den die Befürworter der Unabhängigkeit aufbringen. Dabei gibt es genug Schotten, die sich vor allem als Briten fühlen, mit Stolz den "Union Jack" tragen und der Queen anhängen. "Better Together" spricht dieses Gefühl allerdings kaum an. Ihr Chef ist Alister Darling, ein ehemaliger Finanzminister. Er kann präzise erklären, worin die Risiken der Unabhängigkeit liegen, vor allem wenn es um Finanzen und Währung geht. Eine mitreißende Rede halten kann er nicht.

Darling setzt auf die Kraft des Arguments. Und auf die Angst. Ian, der von Tür zu Tür zieht, erzählt folgende Geschichte: Wenn die Schotten für die Unabhängigkeit stimmen und dann über die zukünftige Währung verhandelt wird, solle man sein Geld an Freunde in England überweisen. Denn irgendwann würden über Nacht alle Guthaben eingefroren und britische Pfund würden in schottische Pfund umgewandelt. Wenn am nächsten Morgen die Banken aufmachten, habe die neue Währung schon abgewertet und die Ersparnisse wären kaum noch etwas wert.

Ein Mitstreiter Ians erinnert an die IRA. Die nordirische Untergrundorganisation erschütterte das Land jahrzehntelang mit Anschlägen. "Das hat alles so lange gedauert und ist nun endlich vorbei", sagt der Freiwillige. Bei einer Abspaltung könne es neue Verwerfungen geben, fürchtet er, vielleicht sogar einen bewaffneten Widerstand gegen die neue Regierung. Es gibt in Schottland Fußball-Hooligans, die sich dem Königreich verpflichtet fühlen, radikal-religiöse Vereine, Ableger von britisch-nationalistischen Organisationen.

Und da ist noch so eine Sache, die zu großer Unruhe bei den Freunden des Königreiches führt. "Sie sagen es ja nicht laut", flüstert der Mann, und sein Gesicht wird noch ernster. "Aber ich glaube, die Scottish National Party ist auch gegen die Queen."

Quelle: ntv.de

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