Der Kriegstag im Überblick Russland konzentriert Angriffe bei Lyssytschansk - Schweden und Finnland auf dem Weg in die NATO
29.06.2022, 21:53 Uhr
In Lyssytschansk sind zahlreiche Gebäude durch den wochenlangen Beschuss völlig zerstört.
(Foto: REUTERS)
Russland treibt die Einkesselung von Lyssytschansk voran, verlegt dazu weitere Kräfte in die Region und tötet bei Gefechten angeblich viele ukrainische Soldaten. Einige andere kommen dagegen bei einem großen Gefangenenaustausch frei, darunter Asow-Kämpfer, die in Mariupol gefangengenommen wurden. Die NATO startet offiziell das Aufnahmeverfahren von Finnland und Schweden und stellt sich neu auf. Unter anderem solle die deutlich vergrößerte schnelle Eingreiftruppe bereits im kommenden Jahr einsatzbereit sein. Der 125. Kriegstag im Überblick.
Russland verstärkt Offensive bei Lyssytschansk
Im Osten der Ukraine versuchen russische Truppen nach Einschätzung des ukrainischen Militärs, die strategisch wichtige Stadt Lyssytschansk einzukesseln. Das sei eine der Hauptanstrengungen des Feindes, teilt der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht mit. Die Offensive in Richtung der Stadt werde fortgesetzt. Vertreter prorussischer Separatisten hatten berichtet, es gebe schon Kämpfe im Stadtgebiet. Um das Tempo aufrechtzuerhalten, hätten die Besatzer ihre Bataillonsgruppe verstärkt, heißt es. Bei Kämpfen im Süden der Stadt haben die ukrainischen Truppen nach Darstellung Moskaus zudem deutliche Verluste erlitten. Von den 350 Männern einer Gebirgsjägerbrigade seien lediglich noch 30 Soldaten am Leben geblieben, teilte das russische Verteidigungsministerium in Moskau mit und bezieht sich dabei auf Kämpfe an einer Ölraffinerie.
War Raketenangriff auf Einkaufszentrum ein Versehen?
Der russische Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in der ukrainischen Großstadt Krementschuk mit mindestens 20 Toten könnte nach Einschätzung britischer Geheimdienste ein Versehen gewesen sein. Es sei durchaus realistisch, dass die Attacke am Montag ein nahe gelegenes Infrastrukturziel habe treffen sollen, heißt es in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums. Moskaus Angriffe mit Langstreckenraketen seien auch schon in der Vergangenheit ungenau gewesen, was zu einer hohen Zahl an zivilen Opfern geführt habe - etwa beim Beschuss des Bahnhofs in der Stadt Kramatorsk im April, heißt es weiter. Moskau sei bereit, "hohe Kollateralschäden" in Kauf zu nehmen.
Tote und Verletzte bei neuen Angriffen Russlands
Raketenangriffe gab es auch au heutigen Tag wieder. So wurde etwa die Stadt Dnipro von sechs Raketen getroffen. Dabei kamen laut Gouverneur Walentyn Resnitschenko ein Mann und eine Frau ums Leben. Sie wurden unter den Trümmern eines zerstörten Unternehmens gefunden. Drei Tote und fünf Verletzte gab es zudem bei einem Raketenangriff auf die Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine. Der Militärgouverneur des Gebiets Mykolajiw, Witali Kim, schreibt auf Telegram, dass dabei ein Hochhaus getroffen worden sei.
Asow-Kämpfer kommen bei Gefangenenaustausch frei
Bei dem bislang größten Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine werden nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums 144 ukrainische Soldaten befreit. Darunter seien 95 Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol, erklärt die Geheimdienstabteilung des ukrainischen Verteidigungsministeriums im Onlinedienst Telegram. Prorussische Separatisten bestätigten den Tausch und teilten mit, dass 144 Kämpfer ihrer und russischer Einheiten dafür in ihre Heimat zurückkehren können.
Referendum für Eingliederung von Cherson wird vorbereitet
Der Vormarsch der russischen Truppen über Mykolajiw auf Odessa gelingt derzeit nicht, dafür soll die Region Cherson schnellstmöglich in russisches Territorium integriert werden. Laut der prorussischen Militärverwaltung wird dafür ein Referendum vorbereitet. Das sagt der Vizechef der Militär- und Zivilverwaltung von Cherson, Kirill Stremoussow, in einem auf Telegram veröffentlichten Video. "Ja, wir bereiten uns auf ein Referendum vor - und wir werden es abhalten." Cherson solle "ein vollwertiges Mitglied" Russlands werden. Nach früheren Angaben soll es im Herbst stattfinden.
Syrien erkennt Luhansk und Donezk als Staaten an
Die selbsternannten Republiken Luhansk und Donezk gehören noch nicht zum russischen Staatsgebiet, wurden vom russischen Präsidenten stattdessen kurz vor Beginn der Invasion jedoch als unabhängige Staaten anerkannt. Diesen Schritt vollzog nun als erstes Land weltweit Syrien, meldete die staatliche syrische Agentur Sana. Es sollten mit beiden "Ländern" Gespräche geführt werden, um diplomatische Beziehungen aufzunehmen, heißt es.
NATO stellt sich neu auf - bald mit Schweden und Finnland
Derweil schmiedet die NATO weiterhin an ihrem Bündnis und ihrer militärischen Stärke. Die gestern verkündete Aufstockung der schnellen Eingreiftruppe von 40.000 auf 300.000 Soldaten soll bereits im kommenden Jahr abgeschlossen, die Truppe einsatzbereit sein. "Sie werden in ihren eigenen Ländern stationiert, aber schon bestimmten Staaten und Gebiete zugewiesen und verantwortlich sein für die Verteidigung dieser Gebiete", sagt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg beim NATO-Gipfel.
Zudem beschlossen die Vertreter der 30 Mitgliedsstaaten ein neues strategisches Konzept. Darin heißt es unter anderem, dass für politische und militärische Planungen Russland als "größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum" angesehen wird, China als Herausforderung. Zudem startete heute das offizielle Verfahren zur Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO. Dem Vorausgegangen war eine Einigung der beiden Kandidaten mit der Türkei, die die Aufnahme blockiert hatte.
Scholz sagt Ukraine weitere Waffen zu
Um die Ukraine zu unterstützen, stellt Bundeskanzler Olaf Scholz die Lieferung weiterer Waffen in Aussicht. Die sollen neben humanitärer und finanzieller Hilfe geleistet werden, so der Bundeskanzler. Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht hatte am Dienstag in Madrid angekündigt, dass Deutschland drei weitere Panzerhaubitzen 2000 in die Ukraine liefern werde. Auch die Niederlande liefern wohl erneut drei Haubitzen dieses Typs. Die Ukraine verfügt dann über insgesamt 18 Stück.
Westen friert 30 Milliarden Dollar russische Vermögen ein
Allerdings soll nicht nur die Ukraine unterstützt, sondern auch Russland wirtschaftlich geschwächt werden. Das geschieht einerseits über das Einfrieren von Vermögenswerten russischer Bürger und Vertrauter Putins. Bisher sind nach westlichen Angaben Vermögen im Gesamtwert von 30 Milliarden US-Dollar (28,5 Milliarden Euro) eingefroren worden. Zudem wurde der zehnfache Wert der russischen Zentralbank auf Eis gelegt, teilte das US-Finanzministerium mit. Dies sei der Arbeit der Task Force "Russische Eliten, Helfer und Oligarchen", in der die G7-Staaten und die EU-Staaten zusammenarbeiten, zu verdanken.
Russlands Diamanten bald vielleicht nicht mehr "konfliktfrei"
Zudem soll der Kauf weiterer Rohstoffe und Waren aus Russland reduziert werden. Nach Öl, Gas und Gold, rücken nun Diamanten in den Fokus westlicher Sanktionen. Die Regierung in Moskau kritisiert einen Vorstoß, russische Diamanten wegen des Krieges gegen die Ukraine zu politisieren und nicht mehr als "konfliktfrei" einzustufen. Denn im Rahmen des sogenannten Kimberley-Prozesses (KP) - ein Zusammenschluss von Regierungen, Diamantenindustrie und Zivilgesellschaft - gibt es Überlegungen, auch Diamanten zu brandmarken, mit denen Aggressionen von Staaten finanziert werden. Bisher definiert der KP Konfliktdiamanten als solche, die Rebellenbewegungen finanzieren, die versuchen, rechtmäßige Regierungen zu stürzen. Die Ukraine fordert nun, auch Russlands Diamanten neu zu bewerten, was auf Rückhalt bei westlichen Regierungen stößt.
Duma verschärft Gesetz für "ausländische Agenten"
Der Kreml versucht seinerseits den Druck auf westliche Staaten zu erhöhen, indem die Staatsduma ein Gesetz zum Vorgehen gegen "ausländische Agenten" weiter verschärft. Menschen und Organisationen, die als "ausländische Agenten" gelten, unterliegen demnach künftig weiteren Auflagen. Auch wurde die Definition erweitert, sodass die Einstufung als "ausländischer Agent" vereinfacht wird. Nach dem neuen Gesetz ist es "ausländischen Agenten" untersagt, an öffentlichen Schulen zu unterrichten, "Informationen" für Minderjährige zu erstellen und öffentliche Gelder zu erhalten. Darüber hinaus kann die Einstufung als "ausländischer Agent" nun bereits erfolgen, wenn ein Mensch oder eine Organisation unter "ausländischem Einfluss" steht.
Komiker wollen für falschen Klitschko verantwortlich sein
Von ganz anderer Seite sollen zahlreiche europäische Bürgermeister zuletzt unter Druck geraten sein. Zwei russische Komiker behaupten, sie steckten hinter dem falschen Vitali Klitschko, der zuletzt mit vielen Bürgermeistern telefoniert hatte, darunter auch Berlins Regierende Franziska Giffey. Das ARD-Politmagazin "Kontraste" habe demnach mit den Komikern Vladimir Krasnov und Alexei Stolyarov gesprochen. In Russland sind sie für Scherzanrufe bekannt. Sie wollen, Aufzeichnungen ihrer Scherze am Donnerstag online stellen, heißt es.
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Quelle: ntv.de, als/dpa/AFP