Politik

Festakt zum 70. mit Zweifeln Soziale Marktwirtschaft zeigt Risse

Die Tafel gibt Lebensmittel in einer Kirche in Berlin-Reinickendorf aus.

Die Tafel gibt Lebensmittel in einer Kirche in Berlin-Reinickendorf aus.

(Foto: dpa)

In Berlin-Mitte feiert die Politprominenz 70 Jahre Soziale Marktwirtschaft. Doch nur ein paar Kilometer entfernt, in Berlin-Reinickendorf, stellt sich die Frage, ob die überhaupt noch funktioniert.

Wohlstand für alle. Das war der populäre Slogan von Ludwig Erhard, dem "Vater" der Sozialen Marktwirtschaft, dem Wegbereiter des "Wirtschaftswunders" nach dem Krieg. Und Erhard war auch am Freitag allgegenwärtig, zum 70. Jubiläum der Sozialen Marktwirtschaft. Die Aula des Wirtschaftsministeriums heißt nun "Ludwig-Erhard-Saal", in einer neuen Ahnengalerie der Wirtschaftsminister der Bundesrepublik ragt Erhard natürlich mit dem größten Bild heraus. "Erhard ist unerreicht", sagt der aktuelle Minister Peter Altmaier von der CDU, bei einem Festakt. Gerade in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung mit historischen Umbrüchen beschwört die Politik die vertraute Formel und will die Soziale Marktwirtschaft in eine neue Zeit führen.

Scholz, DGB-Chef Hoffmann, Merkel und Altmaier feiern 70 Jahre Soziale Marktwirtschaft - sie gilt als Erfolgsfaktor für die Bundesrepublik. Doch sie ist auch in der Krise.

Scholz, DGB-Chef Hoffmann, Merkel und Altmaier feiern 70 Jahre Soziale Marktwirtschaft - sie gilt als Erfolgsfaktor für die Bundesrepublik. Doch sie ist auch in der Krise.

(Foto: dpa)

Doch wie genau? Denn vielen Menschen ist nicht zum Feiern zumute. Berlin-Reinickendorf, Auguste-Viktoria-Allee. Das hier sei ein "Problemkiez", sagt Ingrid Winterhager. Viele Hartz-IV Empfänger leben hier, viele Migranten. Vor der evangelischen Segenskirche, einem roten Ziegelbau, laden Helfer der Berliner Tafel "Laib und Seele" einen Mietwagen aus, voll mit Obst und Gemüse, mit Brot, Wurst und Käse. Es sind Spenden von Supermärkten, Essen, das aussortiert wurde, Waren, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Vorm Seiteneingang warten bereits die ersten "Kunden", wie sie hier genannt werden - Frauen und Männer jeden Alters, Familien mit Kindern. Einmal pro Woche können sie sich hier versorgen, für 1,50 Euro pro Haushalt.

Die Nachfrage sei in den vergangenen Jahren gestiegen, sagt Gemeindepädagogin Winterhager (61). "Für viele Leute, die zum ersten mal kommen, ist das eine Riesenüberwindung, manche haben Tränen in den Augen." Michael Oberländer (58) ist schwerbehindert und muss mit noch nicht mal 400 Euro im Monat auskommen, wie er erzählt. Ohne Tafel wäre er ziemlich aufgeschmissen. "Die Politik lässt uns hängen." Ein 54-jähriger Helfer der Tafel, der wie alle ehrenamtlich arbeitet, wird noch deutlicher: "Die oberen Zehntausend haben alles, die Mittelschicht geht kaputt, und wir hier haben den Rest."

Butterwegge: "Sünden der Vergangenenheit"

Ludwig Erhard (1897-1977) wird als "Vater des Wirtschaftswunders" verehrt. Nach seiner Zeit als Wirtschaftsminister unter Adenauer war er von 1963 bis 1966 zweiter deutscher Bundeskanzler.

Ludwig Erhard (1897-1977) wird als "Vater des Wirtschaftswunders" verehrt. Nach seiner Zeit als Wirtschaftsminister unter Adenauer war er von 1963 bis 1966 zweiter deutscher Bundeskanzler.

(Foto: dpa)

"Der Rest" - das ist ein ziemlich hartes Wort. Aber genau so fühlen sich wohl viele, die Hartz IV beziehen, von der Politik im Stich gelassen. Sie sehen keine Perspektive mehr. Und die Angst vor der Zukunft scheint sich in die Mittelschicht zu fressen. In Großstädten finden viele keine bezahlbare Wohnung mehr, viele haben wegen des digitalen Wandels Sorgen vor dem Jobverlust. Dabei geht die deutsche Wirtschaft ins neunte Wachstumsjahr. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, die Einkommen steigen schneller als die Inflation.

Aber kommt der Aufschwung bei allen an? "Wenn man sich Deutschland im Jahr 2018 anschaut, dann stellt man fest, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft und dass der soziale Sprengstoff zunimmt", sagt der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge. Der 67-Jährige zählt aus seiner Sicht die "Sünden" der Vergangenheit auf: Deregulierung des Arbeitsmarktes, Agenda 2010 und Hartz-Gesetze, Lockerung des Kündigungsschutzes. Mini-Jobs und ein breiter Niedriglohnsektor.

Und auf der anderen Seite seien Kapital- und Gewinnsteuern entweder abgeschafft oder gesenkt worden. "Soziale Marktwirtschaft heißt für mich, dass alle am Wirtschaftsprozess Beteiligten auch an den Erträgen beteiligt werden." Die Soziale Marktwirtschaft dürfe kein "Kosename" für einen neoliberalen Finanzmarktkapitalismus sein. "Die zentralen Versprechen der Soziale Marktwirtschaft waren, soziale Sicherheit zu bieten und dafür zu sorgen, dass es eine Gleichheit gibt", sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. "Das heißt, dass die Gesellschaft nicht auseinanderfällt, dass alle mitgenommen werden, egal wie schwach sie sind. Wenn man sich aber die Entwicklung anschaut, muss man feststellen, dass dieses Versprechen spätestens seit der Jahrtausendwende nicht mehr eingehalten wird."

Beschäftigung auf Höchstmaß

Diese Generalkritik teilt Michael Hüther nicht. "Es stimmt nicht, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich fortlaufend vergrößert hat und die Mittelschicht anhaltend schrumpft", sagt der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft sei in einem höchst erstaunlichen Maße sozial. "Wir haben eine Erwerbsbeteiligung der 25- bis 64-Jährigen von 80 Prozent - so hoch wie noch nie. Das ist das eigentliche Leistungsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft.

Außerdem sind die Reallöhne in den vergangenen Jahren gestiegen, die Einkommen sind mehr als stabil." Doch auch Hüther sieht Handlungsbedarf - in der Integration von Langzeitarbeitslosen, in der Pflege oder bei den Lebensbedingungen von Alleinerziehenden. In einer Phase von Globalisierung und Digitalisierung mit wachsender Konkurrenz aus China und Handelskonflikten mit den USA stelle sich die Frage: "Wie kann eine sozial verpflichtete Wirtschaftsordnung dauerhaft in dieser Globalisierung funktionieren?"

Ein Wort, das immer häufiger zu hören ist, ist "disruptiv". Es meint: Die digitale Revolution hat in einer globalisierten Welt das Zeug, ganze Branchen radikal zu verändern - und das schnell. In der "Industrie 4.0" übernehmen immer mehr Roboter Arbeiten, Künstliche Intelligenz heißt das Schlagwort. Vielen Menschen macht das Angst. "Die Globalisierung hat zu mehr Wohlstand geführt. Aber natürlich ist das jenen Menschen schwer vermittelbar, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben"", sagt Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. "Die Wirtschaft hat eine gesellschaftliche Verantwortung." Die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard müsse modernisiert werde. "Die Wirtschaft muss deutlicher machen, welche gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen wirtschaftliches Handeln hat."

Nahles fordert neue Regeln

Auch die Koalition will gegensteuern - auch aus Sorge, weitere Wähler an die rechtspopulistische AfD zu verlieren. Im Bundestagswahlkampf seien viele Sorgen und Zukunftsängste der Menschen nicht ernst genug genommen, so die Analysen in den Parteizentralen. "Die Digitalisierung verändert die Spielregeln des Kapitalismus", sagte SPD-Chef Andrea Nahles jüngst. "Mit den Regeln der Sozialen Marktwirtschaft haben wir dafür gesorgt, dass der Wohlstandsgewinn auch allen zu Gute kam, dass die großen Lebensrisiken abgesichert waren, und dass Aufstieg durch Bildung unabhängig von Geschlecht, Klasse oder Herkunft möglich war. Dieses Modell ist in der Krise."

Nahles erwähnt neue Technologien und massive Veränderungen in Produktionsweisen. "Die SPD steht vor der Aufgabe, den Menschen die Sicherheit, Wertschätzung und Selbstbestimmung des eigenen Lebens zurückzugeben." Der "digitale Kapitalismus" brauche neue Regeln, damit der technische Fortschritt wieder den Menschen zu Gute komme. Es könnte ein langer und schwieriger Weg werden. Bei der Berliner Tafel jedenfalls sei noch kein Politiker aufgetaucht, sagt Winterhager: "Wir sind ein Sozialstaat, jeder wird mit dem Nötigsten versorgt. Aber ich bin traurig, dass die Tafel notwendig ist."

Quelle: ntv.de, Andreas Hoenig, dpa

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