Hunger, Kälte, ein Paket Hoffnung "Syrien ist eine menschliche Tragödie"
25.12.2014, 07:37 Uhr
Inmitten eines Trümmerfeldes: Ein Junge verkauft in Douma Süßigkeiten.
(Foto: REUTERS)
Syrien ist der größte Krisenherd weltweit: Millionen Syrer hausen in Baracken und Zelten, dem Winter ausgeliefert - und abhängig von internationaler Hilfe. Doch die Gelder könnten in Kürze versiegen, warnt Muhannad Hadi vom WFP, der weltgrößten Hilfsorganisation.
n-tv.de: Der Krieg in Syrien geht 2015 bald ins fünfte Jahr. Wie ist die Lage vor Ort?
Muhannad Hadi: Es ist eine menschliche Tragödie. Die Kämpfe werden immer intensiver, die Herausforderungen für Hilfsorganisationen wachsen von Tag zu Tag. Jetzt bricht der Winter ein - und der Winter im Mittleren Osten ist sehr hart. Im letzten Jahr hatten wir in Amman über einen Meter Schnee. Für die Menschen, die in zerbombten Häusern, in Zelten oder Containern hausen, sind das extreme Bedingungen.
Wie hilft das WFP den Menschen?
Pro Monat unterstützen wir rund 6 Millionen Syrer mit Nahrungsmittelpaketen oder Essensgutscheinen. Damit erreichen wir aber längst nicht alle, die tatsächlich bedürftig sind. In die belagerten Gebiete kommen wir nicht. Die UN haben eine Liste mit 280 Orten veröffentlicht, die für uns aufgrund der Sicherheitslage nicht zugänglich sind.
Haben Sie Kontakt in die Gebiete, in denen die Terrormiliz Islamischer Staat herrscht?
Nein. Allein in Ar-Raqqa, wo die IS-Terroristen herrschen, leben rund 600.000 Menschen, denen wir nur sehr sporadisch oder gar nicht helfen können. Ihre Lage ist herzzerreißend. Und je länger die Krise andauert, desto größer wird ihr Leiden.
Was bewirkt die Hilfe des WFP?
Da sind Familien in einer entlegenen Gegend, eine Frau mit ihren fünf, sechs Kindern, die nicht wissen, wo ihr Vater steckt. Wir geben ihnen Nahrung und Hoffnung. Hoffnung, dass die Krise, dass der Alptraum bald ein Ende hat. Beim Verteilen der Lebensmittelpakete sehen wir einen Blick, den man nicht beschreiben kann. Die Menschen gucken voller Sorge und fragen sich: Gibt es genug für alle? Und dann sieht man ein Lächeln, wenn ihre Namen aufgerufen werden. Besonders die Frauen, Kinder und Alten sind vollständig auf die Lebensmittelhilfen des WFP angewiesen. In manchen Gegenden gibt es keine funktionierenden Märkte und selbst wenn es welche gibt, haben die Menschen kein Geld, um einzukaufen. Sie können sich von niemandem Geld leihen, sie verdienen nichts.
Anfang Dezember musste das WFP bereits die Hilfe für fast 2 Millionen syrische Flüchtlinge einstellen, weil die Spendengelder nicht flossen. Was bedeutete das für die Menschen?
Es war eine Katastrophe, es war ein Alptraum. Wir fragten die Mütter: "Was werdet ihr nun tun?" Ihre Antwort war: "Wir wissen es nicht. Wir haben kein Geld mehr. Wir können kein Essen für unsere Kinder kaufen. Wir können nicht zurückgehen nach Syrien, weil wir um unser Leben und das unserer Kinder fürchten."
Nach einem dramatischen Aufruf kamen genügend Spenden zusammen, so dass das WFP die Nahrungsmittelhilfe wieder aufnehmen konnte.
Das UN World Food Programme unterstützt rund 4,5 Millionen Syrer im Land und 1,7 Millionen Syrer in den angrenzenden Staaten. 2015 will das WFP das Schulspeisungsprogramm in Syrien ausbauen, um 500.000 Schüler zu erreichen. Fast 300.000 Kinder, die unter Mangelernährung leiden oder von ihr bedroht sind, erhalten Zusatz- oder Spezialnahrung. Auch 15.000 schwangere und stillende Mütter werden speziell unterstützt.
Spenden an das WFP in Deutschland wickelt die Maecenata-Stiftung ab:
IBAN DE 5070 0205 0000 0887 8700
BIC BFSWDE33MUE
Das Geld reicht nicht einmal bis Ende Januar. Schon bald stehen wir wieder vor demselben Problem - mit allen Folgen: Zwangsheiraten, mehr Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen dürfen und auf der Straße Geld verdienen müssen. Selbst Familien, die noch Geld besitzen, müssen mit einer Mahlzeit am Tag überleben. Und diese Mahlzeit wird nicht nahrhaft sein.
Wie viel Geld braucht das WFP im nächsten Jahr?
Im Moment kosten uns die Lebensmittelpakete und die Lebensmittelgutscheine pro Woche rund 35 Millionen US-Dollar. Für das nächste Jahr benötigen wir insgesamt 1,5 Milliarden Dollar. Wir brauchen mehr Unterstützung von allen Ländern, von Deutschland, der EU, den USA und auch von den Golfstaaten. Jeder einzelne kann helfen - und sei es mit einer Spende von einem Dollar. Dies ist eine internationale Krise, die internationale Hilfe benötigt. Von jedem.
Erst kürzlich hatten die westlichen Staaten zugesagt, 100.000 Flüchtlinge aufnehmen. Ist das eine Antwort auf die Krise?
Es ist eine Geste. Die 100.000 werden sicher glücklich und dankbar dafür sein. Aber wir sprechen von 3 Millionen Flüchtlingen – nicht nur 100.000. Die Antwort auf die Krise ist politische Stabilität, so dass die Syrer zurückkehren können.
Bisher sind die meisten Flüchtlinge in den Nachbarstaaten untergekommen. Wie ist dort die Lage?
Für die Gastländer sind die Belastungen extrem und sie stehen vor großen Herausforderungen: Im kleinen Libanon sind bereits mehr als ein Viertel der Bevölkerung Flüchtlinge. Jordanien hat noch nicht mal genug frisches Wasser für die eigene Bevölkerung und dann kommen noch bis zu eine Millionen Flüchtlinge hinzu. Und wenn man von der Wirtschaft Jordaniens spricht, dann lässt sich diese definitiv nicht mit der deutschen vergleichen.
Können Sie die Syrien-Krise mit irgendeiner anderen vergleichen?
Ich arbeite seit 23 Jahren für das WFP und habe viele Krisen gesehen. Doch die Syrien-Krise ist die schlimmste. Sie ist riesig und kam plötzlich, die Menschen waren in keiner Weise vorbereitet. Bis 2011 war Syrien ein Land, in dem die Bevölkerung ein mittleres Einkommen hatte, und exportierte Nahrungsmittel. Plötzlich müssen die Syrer darum kämpfen, Essen für ihre Kinder aufzutreiben. Eigentlich bin ich ein optimistischer Mensch. Aber in dieser Krise habe ich gelernt, vorsichtig zu sein.
Wagen Sie eine Prognose, wann die Krise enden wird?
Ich hoffe, sie endet heute Nacht. Ich hoffe, dass wir schon im Januar nicht mehr in Flüchtlingslagern Essen verteilen müssen, sondern längerfristige Entwicklungsprogramme in Syrien starten können. Dass wir Schulspeisungen in Syrien verteilen können für dieselben Mädchen, die wir auch vor dem Krieg unterstützt hatten und die damals davon träumten, Ärzte, Ingenieure, Lehrer zu werden - bevor es sie in Flüchtlingslager verschlug. Ich hoffe, dass die Flüchtlinge bald zurückkehren und ihre Heimat wieder aufbauen können. Nirgends ist es besser als zu Hause - und nichts ist schlimmer, als ein Flüchtling zu sein.
Mit Muhannad Hadi sprach Gudula Hörr
Quelle: ntv.de