Schulz glaubt an das Wunder "Umfragen interessieren mich nicht"
20.09.2017, 19:02 Uhr
SPD-Kanzlerkandidat Schulz glaubt an einen "Last-Minute-Swing" und ist davon überzeugt, dass der Wahlkampf erst auf den letzten Metern entschieden wird. Im Interview mit RTL verrät er außerdem, was er als Kanzler schnellstmöglich umsetzen würde.
Peter Kloeppel: Herr Schulz, verraten Sie uns ihr Rezept, wie Sie sich jeden Morgen motivieren, in den Wahlkampf zu ziehen:
Martin Schulz: Alle Erfahrungen aus nationalen und internationalen Wahlkämpfen lehren: Die Zahl an unentschlossenen Wählern nimmt immer mehr zu, und wir haben auch heute bei den Umfragen 40 Prozent Unentschiedene - es ist also noch alles möglich.
Wären Sie dafür, dass man vor einer so großen Wahl Umfragen untersagt?
Wegen mir nicht. Mich interessieren sie auch nicht.
Worauf gründet denn Ihre Hoffnung, dass Sie anders als Steinbrück Bundeskanzlerin Merkel ablösen können?
Die Atmosphäre, die ich im Lande erlebe. Die Behauptung, es gäbe keine Wechselstimmung, stimmt nicht. Die Union baut massiv ab in den Umfragen. Es stimmt, wir bauen auch nicht auf, aber es gibt eine enorme Verunsicherung. Und ich glaube sehr wohl, dass wir einen Last-Minute-Swing haben.
Wann glauben Sie, kann der eintreten? Ich meine, es sind jetzt noch vier Tage bis zur Wahl. Müsste man jetzt langsam merken, oder?
Nee, das glaube ich nicht: Fast zehn Prozent der Bürgerinnen und Bürger entscheiden sich am Wahltag. Deswegen lohnt sich ein Wahlkampf bis zur letzten Minute. Ich weiß, dass das oft wie ein Pfeifen im Walde klingt, aber denken sie an die USA, an Brexit.
Warum hat das Thema soziale Gerechtigkeit als Kernthema der SPD bisher nicht geholfen?
Das wissen Sie nicht, ob es nicht geholfen hat. Das kann sehr wohl noch anders kommen. Sie haben ja selbst in den Wahlarenen gesehen, was die Bürger betrifft: Rente, Miete, Bildung. Deswegen glaube ich sehr wohl, dass wir sehr nah mit unserem Programm bei dem sind, was die Bürger berührt.
Wenn Sie Kanzler werden oder wieder in eine Große Koalition eintreten, was wären die Kernthemen, von denen Sie sagen, die wollen sie sehr schnell umsetzen?
Bildung, Pflege, Rente. Bei der Pflege erleben wir zurzeit dramatische Dinge: Das, was uns Pflegerinnen und Pfleger, das was wir in den Pflegeheimen sehen, ist eines so reichen Landes wie der Bundesrepublik Deutschland unwürdig. Ich würde einen Neustart wagen.
Was heißt das konkret? Sie haben vor ein paar Tagen gesagt: Mehr Personal, das muss man erstmal finden. Sie haben gesagt: bessere Bezahlung, 30 Prozent, aber das können Sie gar nicht verordnen. Das ist eine Sache der Tarifpartner.
Nein, das sehe ich entschieden anders. Man kann sehr wohl beim Personalschlüssel eingreifen. Bei der Rekrutierung des Personals kann der Staat sicher auch werbend helfen. Was die Tarife angeht haben Sie recht: Das ist teilweise Aufgabe der Tarifpartner, teilweise ist aber auch die öffentliche Hand Tarifpartner.
Bildung haben Sie erwähnt. Was konkret bei der Bildung?
Ich habe mit den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten besprochen, dass wir das, was wir eine nationale Bildungsallianz nennen, sofort auf den Weg gebracht wird. Der Bund sollte aus seinen Haushaltsüberschüssen schnell Mittel bereitstellen, vor allem für eine Ausstattung an den Schulen. Die Kreidezeit muss in der Schule irgendwann zu Ende gehen: Wir brauchen WLan, Investition in die Breitbandanschlüsse, übrigens auch generell - ich bin auf der Fahrt hierher von einem Funkloch ins nächste gerutscht.
Wir müssen damit rechnen, dass die AfD in den nächsten Bundestag einzieht: Was heißt das für unser Parlament, wenn da Demokratiefeinde, Nationalisten und Rechtsextremisten sitzen?
Wir leben in einer Umbruchphase, und das, was wir für sicher hielten, vor allem die bedingungslose Bejahung der Demokratie, das steht auf dem Spiel. Die AfD ist eine rassistische, fremdenfeindliche und demokratiefeindliche Partie. Diese Respektlosigkeit, mit der andersdenkende, andersfarbige und andersgläubige Menschen in diesem Land niedergemacht werden, schockiert mich. Wir müssen da hart gegensteuern, sonst gewinnen diese Konjunkturritter der Verunsicherung.
Der Wahlkampf geht zu Ende, vier Tage sind es noch bis zum Wahltag. Können Sie mir drei Lektionen nennen, die Sie gelernt haben, die Sie vielleicht auch neu lernen mussten als Europapolitiker, der in die deutsche Politik kommt?
In Berlin sind sich nicht immer alle über die besondere Bedeutung Deutschlands in Europa bewusst. Das muss man sich in Erinnerung rufen, das ist so eine Lektion, die ich gelernt habe. Die zweite Lektion: Deutschland ist ein wohlhabendes Land, aber nicht alle Menschen sind wohlhabende Menschen. Das sieht man hinter den Kulissen. Und die dritte Lektion: Der junge Mann, der da in der Wahlarena bei Angela Merkel gesagt, in Deutschland liegen alte Menschen in ihren Exkrementen und werden nicht versorgt. In einem der reichsten Länder der Erde, in dem so ein Satz gesagt wird, das verstößt gegen Artikel 1 des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Überrascht Sie das, dass es eine solche Erfahrung gibt in Deutschland?
Nein, es überrascht mich nicht, weil ich das gespürt habe, seit ich im Wahlkampf unterwegs bin. Aber wie gleichgültig ein Teil der öffentlichen Meinung darüber hinweggegangen ist, das hat mich überrascht.
Ist Ihre Haut dicker geworden in den letzten Monaten?
Das werde ich oft gefragt, und nein: Meine Haut ist weder dicker noch dünner geworden. Ich bin, wie ich bin: Ich hab das jetzt gemacht und mache das noch bis Sonntagabend, und wie ich glaube, auch erfolgreich zu Ende.
Quelle: ntv.de