Klare Worte vom Kanzler Warum Scholz für Kiew plötzlich so was wie Führung zeigt


Auch andere EU-Staaten sollen ihre Hilfe für die Ukraine verstärken, fordert der Kanzler. Er hat Deutschlands Militärausgaben für Kiew auf acht Millionen verdoppelt.
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Kanzler Scholz ruft die EU-Staaten auf, mehr für die Ukraine zu tun. So viel Engagement ist man bei diesem Thema nicht gewohnt vom Kanzler. Hat der etwa erkannt, dass es durch den akuten Ausfall der USA jetzt wirklich auf ihn ankommt?
Olaf Scholz im Einsatz - seit vergangener Woche wirbt der Bundeskanzler, vornehmlich am Telefon, um schnellere und verlässlichere Hilfe für die Ukraine. Einige Amtskolleginnen und -kollegen an der Spitze anderer EU-Staaten soll Scholz bereits angerufen haben, aber auch öffentlich äußert er sich neuerdings ungewohnt konkret: Mit der Verdopplung der deutschen Militärhilfe von vier (im Jahr 2023) auf dieses Jahr acht Milliarden Euro stellte der Kanzler kürzlich in einem Statement klar, die bislang von den meisten EU-Mitgliedsländern geplanten Waffenlieferungen für Kiew seien zu gering. Er rufe deshalb die Verbündeten der EU auf, "ihre Anstrengungen zugunsten der Ukraine ebenfalls zu verstärken".
Bis zur außerordentlichen EU-Ratssitzung am 1. Februar sollen - so Scholz' Anspruch - möglichst viele europäische Ukraine-Unterstützer entschieden haben, wie ihre Hilfe 2024 aussehen wird. Europa müsse demonstrieren, "dass es eng an der Seite der Ukraine steht". Vom Zauderer zum Antreiber: Ist der Wandel des Kanzlers eine gute Nachricht für Kiew?
Hat auch der Kanzler die Notlage an der Front erkannt?
Jein, muss die Antwort wohl lauten. Zwar könnte die Scholzsche Initiative tatsächlich eine erste Umsetzung seines in der Zeitenwende-Rede vom Februar 2022 formulierten Führungsanspruchs in Europa sein. Kurz bevor sich endgültig niemand mehr daran erinnert. Ein erster Schritt, Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht tatsächlich einzusetzen, um die Ukrainehilfe der EU solider zu gestalten.
Doch ist das nachdrückliche Werben des Kanzlers um Unterstützung leider auch und vielleicht vor allem Ausdruck eines drohenden Notstands in den Schützengräben der Front. Im Osten und Süden der Ukraine kämpfen Kiews Truppen eben nicht nur mit den russischen Invasoren und mit der klirrenden Kälte in kaum geschützten Stellungen, sondern vor allem auch mit dem eklatanten Mangel an Waffen und Munition.
Das betrifft vor allem Artilleriegeschosse, da die Depots für die westliche Munition im Kaliber 155 Millimeter weitestgehend leer sind. Anfang 2023 hatten sich die EU-Verteidigungsminister öffentlichkeitswirksam geeinigt, gemeinsam und binnen eines Jahres eine Million Schuss Artilleriemunition an die Ukraine zu liefern - allerdings ohne sich bei der ansässigen Rüstungsindustrie vorher mal schlau zu machen, wie ihre Kapazitäten denn so sind.
Die sind durchaus limitiert - aufgrund eigener Auslastung, aber auch durch die nötigen Zulieferungen, etwa von chemischen Vorprodukten. TNT kann man in Bosnien oder Albanien kaufen, vor allem aber in China, wo der eifrigste Mitbieter im Wettbewerb um die dortigen Ressourcen Wladimir Putin heißt. Der hat aufgrund der vor geraumer Zeit erfolgten Umstellung auf Kriegswirtschaft recht viel Bedarf, "der russische Import chemischer Vorprodukte zur Munitionsherstellung ist seit März 2022 in Rekordhöhe geschnellt", sagt Militärexperte Gustav Gressel.
Aus einer Million wurden 300.000
Scholz und EU-Kollegen müssen also verstehen, dass man nicht nur für die Produktion von Panzern, Haubitzen oder Flugabwehrsystemen viel zeitlichen Vorlauf braucht, sondern dass auch die weniger aufwendige Herstellung der dazugehörigen Munition verlässliche Absprachen erfordert. Vor allem jedoch auch die Bereitschaft vonseiten der Regierungen, womöglich Vorschüsse zu zahlen oder Abnahmen zu garantieren. Welcher der 18 Betriebe, die in der EU und Großbritannien Munition produzieren, möchte in mehr Kapazitäten investieren, wenn das zusätzliche Werk nach zwei Jahren schon wieder stillstehen könnte?
Nach dem Millionen-Beschluss der EU-Verteidigungsminister fehlten Koordination und Kommunikation, so wurden aus einer Million Schuss am Ende 300.000. Zum Vergleich: Etwa zwei Millionen Geschosse kamen im vergangenen Jahr aus den USA. Entsprechend bedrohlich klang für die Ukrainer die Mitteilung aus Washington Ende Dezember, man stelle nun das vorerst letzte Paket Militärhilfe für Kiew bereit. Nach dieser Lieferung, die auch noch einmal Artilleriemunition umfasste, sind die bisher bewilligten Mittel ausgeschöpft. Das Einsetzen weiterer Gelder wird von den Republikanern im Kongress derzeit blockiert.
Beide Faktoren - die unkoordinierte, schleppende Hilfe aus Europa und der aktuelle Ausfall der USA sorgen an der Front bei den Ukrainern für ernsthafte Probleme, denn die Reserven sind größtenteils aufgebraucht, Kiew ist auf Neuproduktion angewiesen. Doch wenn die nicht einmal reicht, um neue Reserven anzulegen, wird termingerechte Lieferung überlebenswichtig.
"Wenn man die ukrainischen Truppen ohne die Möglichkeit zur Gegenoffensive, ohne Überlegenheit, sondern einfach nur defensiv über dieses Jahr bringen möchte, braucht man in etwa 1,8 Millionen Schuss Artilleriemunition", so lautet die Einschätzung Gressels. Zum Vergleich: Russland kann für 2024 durch eigene Produktion und Lieferungen aus Nordkorea und dem Iran mit mindestens fünf Millionen Schuss für seine Artilleriesysteme rechnen. Könnten Washington und Europa wie im vergangenen Jahr zusammenlegen, dann wären nach Gressels Berechnung für die Ukraine zumindest 1,2 bis 1,5 Millionen zu schaffen. "Dann darf aber in den USA nichts schiefgehen", sagt der Forscher vom European Council on Foreign Relations. Nun beginnen dort die Lieferprobleme noch viel früher als ohnehin schon befürchtet.
In dieser Situation hat Olaf Scholz offenbar erkannt, dass die monatlichen Treffen der Ukraine-Unterstützerstaaten der Brisanz der Situation nicht gerecht werden. Dort bemühen sich die teilnehmenden Länder regelmäßig, möglichst gut klingende Hilfspakete zu präsentieren. Doch zu sehr orientiert sich Menge und Art der Unterstützung an den eigenen Reserven, zu wenig an dem, was die Ukraine tatsächlich am dringendsten braucht.
Beim Gepard gab's "fast schon ein kleines Wunder"
Der jüngste Vorstoß des Kanzlers mag da für mehr Verbindlichkeit sorgen und speist sich womöglich auch aus seiner konkreten Erfahrung, dass man mit guter Koordinierung und Entscheidungsfreudigkeit in der Rüstungspolitik viel erreichen kann. "Fast schon ein kleines Wunder" nennt Sicherheitsexperte Gressel, was 2023 mit dem Flakpanzer Gepard passierte. Den hat die Bundeswehr schon vor zehn Jahren ausgemustert, Munition wurde in Deutschland nicht mehr gefertigt, sondern bei einer Rheinmetall-Tochter in der Schweiz. In der Ukraine erlebte der Gepard als effektive Flugabwehrwaffe, deren Bedienung Kiews Truppen schnell gelernt hatten, ein schillerndes Comeback - bis die Munition knapp wurde.
Die Bundesregierung wurde bei der Schweiz vorstellig, auch in Brasilien, wo Gepards die WM 2014 geschützt hatten und noch Munition vorrätig war - und erntete nur Absagen. Kurzerhand einigte man sich mit Rheinmetall darauf, dass in Niedersachsen eine neue Produktionsstätte entstehen sollte. "Da der Gepard nur für eine spezielle Art von Munition ausgelegt ist, musste man diese alte Munition quasi nachbauen", beschreibt Gressel die Herausforderung. Anfang vergangenen Jahres lief die Produktion an, inzwischen ist die Munitionsknappheit beim Gepard Geschichte. "Das in der kurzen Zeit zu schaffen und in so hoher Qualität zu liefern, war eine Leistung." Gelingt es Scholz im dritten Jahr des Krieges, in der EU nachhaltig Aufbruchstimmung zu erzeugen, dann lässt sich Ende des Jahres vielleicht auch für Artilleriemunition eine Erfolgsgeschichte erzählen.
Quelle: ntv.de