Politik

Ein Abend mit Gabriel Was man von Trump lernen kann

Gabriel ließ sich von Kubicki befragen.

Gabriel ließ sich von Kubicki befragen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Sigmar Gabriel fordert eine Debatte über das Verhältnis von Moral und Interessen in der deutschen Außenpolitik. Und er erklärt, warum Regierende zu originellen Gedanken meist nicht in der Lage sind.

Der Befund ist dramatisch. "Wir stehen vor einer Wegscheide, wie sie die Welt nur alle paar Jahrhunderte erlebt", schreibt Sigmar Gabriel in seinem Buch, das gerade erschienen ist. "Vor unseren Augen vollzieht sich der Übergang einer im Wesentlichen westlich geprägten Ordnung in einen neuen Aggregatzustand, in dem neue Akteure immer stärker ihre Ansprüche und Machtinteressen reklamieren."

Gabriel will die Diskussion darüber vorantreiben, wie Deutschland auf diese Entwicklungen reagieren kann, wie es vielleicht sogar Einfluss auf die entstehende neue Weltordnung nehmen kann. Der ehemalige Außenminister legt gleich selbst mehrere Vorschläge auf den Tisch. Zum Beispiel den: Deutschland hat sich bekanntlich verpflichtet, sein Verteidigungsbudget auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Dass Gabriel dieses Ziel für falsch hält, ist bekannt. Aus amerikanischer Sicht trickst die Bundesregierung ohnehin schon: Sie hat bis 2024 eine Erhöhung auf 1,5 Prozent in Aussicht gestellt, will Ausgaben für Entwicklungshilfe aber mitzählen.

Gabriel hält das für richtig, aber er will noch einen Schritt weitergehen. Um auf die zwei Prozent zu kommen, könnte die Bundesrepublik doch die fehlenden 0,5 Prozent in die europäische Verteidigung investieren, und zwar in Osteuropa. "Die Lösung würde zeigen, dass die Deutschen bereit sind, Verantwortung für das öffentliche Gut Sicherheit zu übernehmen. Sie demonstrierten damit eine Verantwortungsbereitschaft für Europa, die bislang nur von den USA getragen wurde."

Der Vorschlag ist in mehrfacher Hinsicht mutig. Er lässt sich leicht diffamieren - man sieht die Schlagzeile "SPD will Polen Milliarden überweisen" schon vor sich. Zudem geht es Gabriel nicht nur darum, Verteidigungslasten zwischen wohlhabenden und weniger wohlhabenden Nato-Staaten zu verteilen. Es geht auch um deren konkrete Sicherheitsinteressen. "Der Schwerpunkt dieses europäischen Investitionsprogramms für Verteidigung wäre die Ostflanke der Allianz, die die militärische Bedrohung ganz unmittelbar empfindet." Kurzum: Es geht um Russland.

Keine Ostpolitik ohne Westbindung

Für einen sozialdemokratischen Ex-Minister ist das keine ganz selbstverständliche Haltung. Bei der Buchvorstellung am Dienstagabend in Berlin sagt er, das Kapitel über Russland sei ihm am schwersten gefallen. Er verbindet das Land mit zwei Erfahrungen: einer historischen und einer persönlichen. Er staune immer, wie offen und herzlich Russen Deutschen gegenüber seien. "Und das nach mehr als 20 Millionen Toten, die Deutsche in Russland hinterlassen haben."

Zudem gilt natürlich auch für Gabriel, dass Wandel durch Annäherung besser ist als die Eskalation eines Konflikts. Er beruft sich ausdrücklich auf den früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt und auf Egon Bahr, den Architekten der Brandtschen Ostpolitik. Allerdings ist Wandel durch Annäherung für Gabriel alles andere als ein unkritisches Andienen an die russische Regierung: Zentrale Voraussetzung für Brandts Ostpolitik sei die eindeutige Verankerung der Bundesrepublik in Europa und der Nato gewesen.

Einem Zuschauer bei seiner Buchvorstellung, der sich mehr Wandel durch Annäherung zwischen Deutschland und Russland wünscht, erklärt Gabriel, es sei eine Verklärung der Politik von Willy Brand und Egon Bahr, wenn man ausblende, dass die Basis der sozialliberalen Ostpolitik Westbindung, Verteidigungsfähigkeit und Verhandlungen gewesen sei. In seinem Buch weist Gabriel zudem auf einen wichtigen Unterschied zwischen der damaligen Sowjetunion und dem Russland von heute hin. Der UdSSR sei es darum gegangen, den Status quo zu sichern. "Das Russland von Wladimir Putin ist keine Status-quo-Macht mehr, sondern eine revisionistische Macht, die bereit ist, Grenzen zu verschieben."

Gabriel gegen Stereotyp vom "bösen Russen"

Gabriel wendet sich gleichermaßen gegen das Stereotyp vom "bösen Russen" und gegen die in linken und rechten Kreisen gleichermaßen verbreitete Annahme, Deutsche und Russen seien irgendwie wesensverwandt und müssten deshalb so eng wie möglich zusammenarbeiten. Den Mann im Publikum fragt Gabriel: "Wissen Sie, was die Polen komisch finden?" Und gibt die Antwort selbst: "Wenn Deutschland und Russland alleine reden, das finden die komisch."

Russland ist nicht das zentrale Thema des Buches, auch nicht die USA, China und Europa, denen selbstverständlich ebenfalls sehr lesenswerte Kapitel gewidmet sind. Im Kern geht es Gabriel darum, dass die deutsche Politik offen über das Verhältnis von Werten und Interessen diskutieren muss. Gabriels Sparringspartner bei dieser Buchvorstellung ist der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, der gleich erklärt, er sei "ein absoluter Fan von Sigmar Gabriel". Und doch hat Kubicki angesichts der vielen Forderungen und Vorschläge des ehemaligen Wirtschafts- und Außenministers eine Frage: "Was hast du eigentlich gemacht, als du regiert hast?"

Das ist nur teilweise witzig gemeint. Gabriel antwortet, solange man im Amt sei, "ist man ständig konfrontiert mit dem Argument, dass Dinge nicht gehen". In seinem Buch fordert er beispielsweise in einem innenpolitischen Exkurs eine Mindestrente von 1000 Euro. Ihm sei auch klar, dass Experten dann sagten, das passe nicht mit dem Äquivalenzprinzip zusammen. Doch: "Was man von Donald Trump lernen kann, ist, dass man nicht immer die gleichen Antworten geben darf." Die Leute hätten es "satt, Gründe dafür zu hören, warum etwas nicht gemacht werden kann".

Am Ende lohnt es nicht nur, über die deutsche Außenpolitik nachzudenken. Sondern auch darüber, wie Ministern und Kanzlerinnen die Freiräume gegeben werden können, die jeder Mensch braucht, um kluge, originelle oder wenigstens neue Gedanken entwickeln zu können. Ohne diese wird der Übergang in den neuen Aggregatzustand wohl kaum gelingen.

Quelle: ntv.de

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