Politik

Die Gegner des Systems Wen Erdogan noch wegbeißen muss

Der türkische Präsident Erdogan hat kaum Konkurrenz, ob er bereits im ersten Wahlgang gewählt wird, ist aber unklar.

Der türkische Präsident Erdogan hat kaum Konkurrenz, ob er bereits im ersten Wahlgang gewählt wird, ist aber unklar.

(Foto: AP)

Präsident Erdogan setzt auf kurzfristige Neuwahlen im Ausnahmezustand. Damit macht er es der Opposition fast unmöglich, ihn zu stoppen. Wer stellt sich dem Herrscher in Ankara überhaupt noch in den Weg?

Bürger, Experten und vor allem die Opposition - der Zeitpunkt der Neuwahlen hat alle überrascht. Schon am 24. Juni sollen die Türken ihren neuen Präsidenten und ein neues Parlament wählen. Regulär wäre der Urnengang für November 2019 vorgesehen gewesen. Die meisten rechneten zwar mit einem vorgezogenen Termin, allerdings nicht derart weit vorgezogen.

Die Opposition hat nun kaum Zeit, sich auf die Konfrontation mit Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan vorzubereiten. Zumal dieser auch gerade dafür gesorgt hat, dass der Ausnahmezustand um ein weiteres Mal verlängert wird. Der herrscht seit dem Putschversuch 2016. Und nun dürften auch Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unter Bedingungen des Notstands stattfinden. Keine Chance für die Opposition, befürchten Türkei-Kenner. Wer stellt sich Erdogan da überhaupt noch in den Weg?

Der ewige Verlierer

Eigentlich müsste die Rolle des ernstzunehmenden Herausforderers Kemal Kilicdaroglu zufallen. Der 69-Jährige ist Vorsitzender der CHP, der traditionsreichen Atatürk-Partei. Im vergangenen Jahr gelang es ihm, einen "Marsch für Gerechtigkeit" anzuführen, an dem sich Hunderttausende Türken beteiligten. Das wohl imposanteste Aufbäumen der Opposition gegen die Übermacht Erdogans und seiner religiös-konservativen AKP. Doch Kilicdaroglu hat für seine CHP seit eineinhalb Jahrzehnten keine landesweiten Wahlen mehr gewonnen. Ihm haftet längst ein "Verliererimage" an, wie es Hans-Georg Fleck n-tv.de sagt. Dem Istanbul-Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung zufolge gibt es auch keine aussichtsreiche Alternative in den Reihen der CHP. Kristian Brakel von der Heinrich-Boell-Stiftung in Istanbul spricht Kilicdaroglu das notwendige Charisma ab, um Erdogan gefährlich werden zu können. Mehr als 20, höchstens 25 Prozent traut er ihm nicht zu.

Kilicdaroglu auf dem Gerechtigkeitsmarsch 2017.

Kilicdaroglu auf dem Gerechtigkeitsmarsch 2017.

(Foto: picture alliance / Dha/Depo Phot)

Bei den Präsidentschaftswahlen stimmen die Türken für gewöhnlich in zwei Wahlgängen ab. Im ersten müsste Erdogan mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen, um direkt Präsident zu werden. Diese Mehrheit ist ihm nicht sicher. Das Referendum für sein Präsidialsystem, das er mit der anstehenden Wahl endgültig manifestieren will, gewann er nur mit einem hauchdünnen Vorsprung. Im zweiten Wahlgang reicht dann eine relative Mehrheit.

Die Wölfin

In der ausländischen Presse bekommt Meral Aksener wohl die meiste Aufmerksamkeit unter den Erdogan-Gegnern. Das hat viele Gründe: Sie verließ die ultranationalistische MHP, die sich auf einen Pakt mit dem starken Mann in Ankara einließ. Aksener gründete ihre eigene Partei Namens Iyi (Ja). Sie sicherte sich damit schon einmal das Image der Rebellin. Ihr Spitzname "Asena" trägt sein Übriges zu einer gewissen Mystifizierung der 61-Jährigen bei. "Asena" bedeutet Wölfin und ist eine Anspielung auf nationalistische Gründer-Sagen des Türkentums, die Aksener gern bedient. Steht sie auf der Bühne, macht sie nicht selten den Wolfsgruß, eine Geste mit der Hand, die in Deutschland vor allem durch die Grauen Wölfe Bekanntheit gewonnen hat. Außerdem umwirbt die Politikerin Teile von Erdogans Kernwählerschaft: die konservativen, besonders vaterlandsliebenden Türken.

Aksener im vergangenen Jahr.

Aksener im vergangenen Jahr.

(Foto: AP)

Doch mit der medialen Aufmerksamkeit in ihrer Heimat Türkei ist es so eine Sache für Aksener: Für Türkei-Kenner Brakel ist Aksener immer noch die große Unbekannte. "Die meisten Leute wissen inhaltlich nicht, was sie eigentlich will", sagt er n-tv.de und fügt hinzu, dass sie in Presse und Fernsehen in der Türkei kaum vorkommt. Dafür sorgen die staatstreuen Medien. Der Kampagne ihrer noch neuen Partei fehle aber auch das Geld. "Viele in der Wirtschaft fürchten, sich zum Feind der Regierung zu machen, wenn sie Aksener unterstützen."

Fleck von der Naumann-Stiftung verweist überdies darauf, dass es der potenziellen Kandidatin schwer fallen könnte in einer zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen größere Massen hinter sich zu vereinen. Aksener hat sich in der Vergangenheit deutlich gegen Friedensverhandlungen mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK ausgesprochen. Für viele Mitglieder der größten Minderheit in der Türkei gilt sie als unwählbar.

Warten auf Godot

Gül im Jahr 2013 vor der UN-Generalversammlung.

Gül im Jahr 2013 vor der UN-Generalversammlung.

(Foto: AP)

Als direkte Konkurrenz im Kampf um Erdogans Kernwählerschaft gilt auch die kleine Saadet-Partei, die islamistische Partei der Glückseligkeit. Und viele setzen Hoffnungen in sie, vor allem, wenn es ihr gelingt, eine alte Größe der türkischen Politik zurück auf die Bühne zu holen: Der Saadet-Vorsitzende Temel Karamollaoglu kündigte kürzlich an, mit dem früheren türkischen Präsidenten Abdullah Gül zu sprechen. Der gilt als Joker im türkischen Machtkampf. Der fromme Gül, 67 Jahre alt, gründete zusammen mit Erdogan die mächtige AKP. Er verwandelte sich über die Jahre allerdings zu einem stillen Kritiker von dessen Politik. Erdogan wandte sich von den gemeinsamen Zielen der beiden ab, wozu eine Aussöhnung mit den Kurden und ein EU-Kurs der Türkei gehörten.

In der Theorie ist Gül ein durchaus geeigneter Kandidat, findet Fleck. "Es muss jemand sein, den man dem Publikum nicht erst vorstellen muss, sondern dessen Name einschlagen würde wie eine Bombe." Doch der Türkei-Experte glaubt nicht, dass der Präsident a.D. dem Ruf folgt. Warum auch, er ertönte schon oft vergeblich. "Gül setzte immer auf große Zurückhaltung und mischte sich nur selten ein", sagt Fleck. "Ich glaube nicht, dass er diese Linie verlassen wird."

Brakel von der Böll-Stiftung pflichtet bei: "Warten auf Gül ist wie Warten auf Godot", sagt er in Anspielung auf das Theaterstück von Samuel Beckett. "Ich glaube nicht, dass Gül überraschend in den Kampf eingreift, um die Türkei vor sich selbst zu retten." Dafür sei er schlicht nicht der Typ. Außerdem hätte das Erdogan-Lager dem einstigen Kontrahenten längst mögliche Konsequenzen klargemacht. Konsequenzen, die schon viele zu spüren bekommen haben.

Der Obama aus dem Knast

Demirtas im Jahr 2016.

Demirtas im Jahr 2016.

(Foto: picture alliance / Sedat Suna/EP)

Selahattin Demirtas hat Präsident Erdogan schon einmal einen Triumph gestohlen: 2015 bei den Parlamentswahlen. Der 45-Jährigen ist so charismatisch, dass er sich den Spitznamen "kurdischer Obama" eingeheimst hat. Ihm gelang es als Vorsitzender, die pro-kurdische HDP zu einer Partei zu machen, die auch viele Nicht-Kurden ansprach - die Liberalen, die Linken, die Gegner Erdogans. Erstmals in der Geschichte schaffte es die pro-kurdische Partei so, die ungewöhnlich hohe Zehn-Prozent-Hürde in der Türkei zu überwinden. Erdogans AKP verlor die absolute Mehrheit.

Doch Erdogan reagierte: Er ließ den Kurden-Konflikt wieder aufflammen und setzte auf einen rigorosen Kurs der Kriminalisierung kurdischer Politiker. Auch Demirtas warf die türkische Justiz Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der bewaffneten PKK vor. Er wurde inhaftiert wie so viele andere Gegner Erdogans. Die Staatsanwaltschaft fordert 142 Jahre Haft. Das Verfahren läuft. Ob Demirtas aus der Haft überhaupt antritt, ist ungewiss. Brakel zufolge will die HDP ihre Kandidaten nächste Woche vorstellen. Erfolgsaussichten ohne Demirtas: gering. "Es gibt trotz der vielen Festnahmen noch starke Persönlichkeiten in den Reihen der HDP", sagt er, "doch niemand wirkt so verbindend und einend wie Demirtas."

Selbst, wenn er antreten würde, wäre es allerdings extrem unwahrscheinlich, dass er den Triumph Erdogans stoppen könnte. Ungefähr die Hälfte der Türken steht hinter ihrem amtierenden Präsidenten. Einem Gegenkandidat müsste es gelingen, die andere Hälfte restlos hinter sich zu versammeln. Kann dies gelingen angesichts der gewaltigen politischen Bandbreite der Opposition? Zu ihr gehören Ultranationalisten, aber auch linke Ideologen und alles dazwischen. Erdogan muss seine Gegner wegbeißen, um im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit zu bekommen. Spätestens im zweiten Wahlgang muss er sich aber - so sieht es derzeit zumindest aus - kaum Sorgen machen.

Quelle: ntv.de

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