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In England hocken 375.000 Schüler in Quarantäne und auch in Deutschland sind die Inzidenzen der Kinder höher als bei Älteren. Auf Delta ist der Schulbetrieb nicht vorbereitet. Droht erneut Homeschooling, während die geimpften Eltern lockern?
"Wechselunterricht", lautet das Wort, das Jens Spahn vergangene Woche auf einer Online-Tagung fallen ließ und wohl sofort wieder bereute: Denn seine Aussage, Deutschland werde "nicht völlig ohne Schutzmaßnahmen - sei es Maske, Abstand, Wechselunterricht, Tests" wieder in den Schulbetrieb gehen können, führte bei Eltern, Verbänden und Medien augenblicklich zu Schnappatmung.
Erstaunen muss den Gesundheitsminister das nicht, waren es doch Schul- und Kitakinder, die im vergangenen Winter über Monate zu Hause bleiben mussten, während es für die Wirtschaft bei Appellen für Homeoffice blieb. Der Grad an Betreuung durch Lehrerinnen und Lehrer reichte von täglichen Videokonferenzen im besten Fall bis zu Kindern, die per Email einmal monatlich schriftliches Material empfingen - ganz nach Gusto und Begabung der Lehrkraft. Das Ifo-Institut brachte es im Frühjahr ernüchternd auf den Punkt: "Es gab kein einziges Bundesland, das gute, verbindliche Konzepte für täglichen Online-Unterricht hatte." Man gehe von großen Lernverlusten aus.
Doch selbst guter Online-Unterricht könnte die soziale Funktion der Schule nicht ersetzen. Kinder- und Jugendpsychiater melden eine spürbare Zunahme bei Depressionen, Angst- und Essstörungen, durch Mangel an Bewegung auch beim Gewicht. Online-Befragungen legen nahe, dass Gewalt in vielen Familien zum Problem wurde. Der Gründer des Kinderprojekts Arche, Bernd Siggelkow, sagt: "Die Luft wird dünner."
Allerdings sorgten diese Erkenntnisse und Warnungen bei der Politik bislang kaum für Konsequenzen. Bereits im vergangenen Jahr ließen Politik und Verwaltung Monate mit der beruhigenden Erfahrung verstreichen, dass aus immunologischer Sicht die Schule nicht als Viren-Drehkreuz aufgefallen war und dass Infektionszahlen unter Kindern über lange Strecken der Pandemie deutlich niedriger lagen als in höheren Altersgruppen. Doch durch Delta und die fortschreitende Impfkampagne könnte sich dieses Verhältnis spürbar verändern - und die Kinder in den Fokus der Pandemie rücken, während die Älteren ihre wiedererlangte Freiheit genießen.
Denn die Herdenimmunität gegenüber Delta, der neuen, um 40 bis 60 Prozent ansteckenderen Variante, wäre erst bei etwa 88 Prozent Immunisierten erreicht, also noch einmal um einige Prozentpunkte weiter entfernt als bei Alpha. Gleichzeitig fühlen sich unter den Erwachsenen viele bestens gewappnet und drängen zurück in ein Leben ohne Beschränkungen. "Sobald Schutzmaßnahmen fallen, wird die Infektion starten und dort zuschlagen, wo sie es noch kann: bei den nicht Immunisierten", sagt der Immunologe Peter Kern, Leiter der Klinik für Immunologie am Klinikum Fulda, ntv.de. "Das geschieht jetzt in Großbritannien und in Israel, und das war auch genauso zu erwarten."
Höhere Ansteckungsraten bei Delta
Inzwischen gingen einige israelische Schulen wieder in den Lockdown, meldeten britische Schulen laut BBC Corona-Cluster mit der Delta-Mutante, die den alten Erreger vom Spielfeld gekegelt hat. Allein in England bilanzierte das Bildungsministerium für die vergangene Woche 15.000 bestätigte Corona-Fälle unter Schulkindern. Die Cluster werden weit gefasst, nicht nur Sitznachbarn gehen mit in Quarantäne, sondern auch indirektere Kontakte. Mehr als 375.000 englische Kinder verharrten nach Angaben des Ministeriums vergangene Woche in Selbstisolation, so berichtet der "Guardian". Die strengen Regeln sind in die Kritik geraten und sollen gelockert werden.
Doch sehen Wissenschaftler genau an diesem Punkt einen relevanten Unterschied zwischen der Ansteckungskraft von Delta und der seines Vorgängers: Für Alpha war ein relativ direkter Kontakt zur Verbreitung notwendig. Aber Delta verursacht eine höhere Viruslast im Rachen, so gelangt der Erreger leichter von einem Wirt zum nächsten. Das Robert-Koch-Institut (RKI) stellt "höhere Ansteckungsraten in Haushalten und bei Ausbrüchen" fest, Delta sei noch leichter übertragbar, und "auch ohne engen Kontakt". 32 ungeimpfte Zehnjährige Tisch an Tisch im Klassenzimmer - ein Fest für die Mutante.
Tatsächlich weist das RKI für die vorvergangene Woche nur in einer einzigen Altersgruppe eine zweistellige Sieben-Tages-Inzidenz aus: bei den 10- bis 19-Jährigen. Sie liegt bei knapp unter 12 Prozent, also in einem insgesamt niedrigen Bereich. Noch, denn die Ausbruchszahlen aus Großbritannien deuten darauf hin, dass sie dort nach dem Ende der Ferienzeit womöglich nicht bleiben wird.
Für Alarmbotschaften über vermehrt schwere Verläufe bei Kindern gibt es bislang indes keinen Anlass. "In unserer Klinik haben wir im Verlauf der gesamten Pandemie nur wenige und in keinem Fall kritisch kranke Kinder mit Covid-Infektionen gesehen und es gibt auch aktuell keine Covid-Infektionen bei Patienten der Kinderklinik", sagt Patrick Hundsdörfer zur Lage im Helios Klinikum Berlin-Buch. Der Chefarzt der dortigen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin sieht stattdessen gehäuft Patienten mit anderen Virusinfektionen, "die wir üblicherweise im Februar/März, aber nicht mehr in dieser Jahreszeit in der Klinik sehen. Wir gehen davon aus, dass die Kinder diese Infektionen, vor denen sie im Frühjahr durch die Covid-Isolationsmaßnahmen geschützt wurden, nun 'nachholen'."
Auch aus Großbritannien kommen bislang weder Zahlen noch Berichte des National Health Service, die die Behauptung des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach aus der vergangenen Woche belegen würden, in britische Krankenhäuser würden vermehrt schwer an Covid erkrankte Kinder eingewiesen. Doch wäre es keine Option, das Virus in den Schulen einfach durchlaufen zu lassen. "Selbstverständlich müssen auch die Kinder so gut wie möglich geschützt werden, insbesondere weil die Gefährdung durch Covid-Varianten nicht eindeutig abschätzbar ist", sagt Kindermediziner Hundsdörfer.
Bestmöglichen Schutz benötigen auch die vorerkrankten Kinder unter 12 Jahren, die noch gar nicht geimpft werden dürfen. Eine RKI-Kindergesundheitsstudie weist bei sechzehn Prozent aller Jungen und elf Prozent der Mädchen bis 17 Jahren chronische Gesundheitsstörungen aus.
Längst nicht alle Vorerkrankungen sind bei Covid-Infektionen kritisch, aber einige wie Asthma, Diabetes, Übergewicht oder Herz- und Kreislauferkrankungen schon. Sollen all die Kinder, bei denen es kritisch sein könnte, auf unbestimmte Zeit zu Hause bleiben, weil sie in der Schule schutzlos wären? Oder - und das deutete Jens Spahn vor einer Woche an - steuert Deutschland auf ein weiteres Schuljahr zu, in dem Schulkinder dauerhaft hinter FFP2-Masken verschwinden, strenge Abstandsregeln beachten müssen, um am Ende wieder in Wechselunterricht oder Homeschooling zu landen? All das, während die geimpften Erwachsenen sich immer weitergehende Lockerungen erlauben?
Wieder zu spät
Die Frage hat sich womöglich auch Markus Söder gestellt. Jedenfalls dachte der bayerische Regierungschef in dieser Woche im Interview mit dem "Merkur" erstmals laut darüber nach, ob man Kommunen dazu verpflichten sollte, in den Ferien Raumluftfilter für jede Klasse anzuschaffen. Ein sinnvoller Plan, der bei etwa 77.000 bayerischen Klassenzimmern und sechs Wochen Zeit kaum realisierbar sein wird.
Völlig zu spät für das kommende Schuljahr kam auch im Juni die Erweiterung eines Förderprogramms des Bundes, das nun Schulen für Kinder bis 12 Jahren, Horten und Kitas beim Einbau einer Filteranlage finanziell helfen soll. Allein bis die Anträge bewilligt sind, wird es Herbst werden.
Zwar startete das 500 Millionen Euro-Programm ursprünglich schon 2020, allerdings mit einer schwer erfüllbaren Bedingung: Schulen mussten bereits ein Lüftungssystem im Gebäude integriert haben, um die Unterstützung zu bekommen. Auf zehn Prozent schätzt das Umweltbundesamt (UBA) den Anteil der Schulgebäude mit raumlufttechnischer Anlage, 90 Prozent der Schulen hatten zu dem Fördertopf also keinen Zugang.
Für diese entwarf das Umweltbundesamt im vergangenen Oktober einen Leitfaden zum richtigen Lüften. Im Zusammenspiel mit anderen Hygienemaßnahmen sei das "ohnehin die effektivste und ausreichende Maßnahme, um Ansteckungen zu verhindern", sagte UBA-Präsident Dirk Messner. Die allermeisten Schulen hielten sich im vergangenen Herbst wohl daran, Kinder verbrachten den Unterrichtstag maskiert und nicht selten in Daunenjacke. Die Quälerei hatte erst ein Ende, als zur Hochzeit der zweiten Welle alle Schulen in den Lockdown gingen - obwohl Lüften angeblich ausreichend vor Ansteckung schützt.
Man hätte nicht mal suchen müssen
Mit der Erfahrung, dass genau dieses Kalkül am Ende doch nicht aufging, hätte man dringend nach Alternativen suchen müssen. Genau genommen hätte man nicht mal suchen müssen, das taten schon andere: Die Universität der Bundeswehr München zum Beispiel testete bereits im Herbst 2020 mobile Luftfilter im Schulbetrieb und attestierte Geräten mit sogenannten HEPA-13 oder -14 Filtern sehr gute Voraussetzungen für die Praxis, wenn sie mindestens das 6-Fache des Raumvolumens pro Stunde filtern.
Die Güteklasse High Efficiency Particulate Air (HEPA) 14 etwa filtert von 100.000 Schwebstoffteilchen alle heraus bis auf fünf. "Das sind Profigeräte, die man auch zeitlich programmieren kann. Die Geräte sind mit weniger als 50 Dezibel kaum lauter als ein ruhiger Raum in dem niemand spricht", beschreibt Christian Kähler ntv.de das Ergebnis seiner Testreihe.
Der Professor für Strömungsmechanik hält die Einschätzung des Umweltbundesamtes für einen "Irrweg". Zum effektiven Lüften brauche man einen großen Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen oder dauerhaft Wind vor dem Fenster. "Sonst findet kein Luftaustausch statt. Wenn sie aber häufig lüften, gleichen sich die Temperaturen immer stärker an und das offene Fenster nützt nichts mehr."
Aus Sicht von Kinderarzt Hundsdörfer ist die "Etablierung alternativer Covid-Schutzmaßnahmen in den Schulen unbedingt erforderlich", anstatt Unterricht "im Winter bei offenem Fenster" durchzuführen. Physiker Kähler empfiehlt ein wirksames Schutzkonzept für den Schulbetrieb, das "transparente Schutzwände und leistungsstarke mobile Raumluftreiniger mit einschließt", die im Stückpreis etwa 2500 - 3500 Euro kosten. "Diese Geräte sind keine Neuentwicklungen, sondern seit 50 Jahren im Einsatz, etwa um radioaktive Partikel, Viren oder Bakterien abzuscheiden", so der Wissenschaftler. Der größte Vorteil dieses Konzepts: Masken im Unterricht wären unnötig.
Immerhin - in knapp 8000 Berliner Klassenzimmern sollen mobile Filter dank Landesförderung nach den Ferien im Einsatz sein. Auch Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen, Thüringen und NRW stellen inzwischen Fördergelder bereit, zum Teil jedoch nur für Räume, die sonst kaum belüftbar sind - etwa Kellerateliers oder Umkleiden. Für das Jahrhundertereignis Pandemie und den Schutz der einzigen Bevölkerungsgruppe, der eine Impfung nicht zur Verfügung steht, keine akzeptable Bilanz.
"Wir starten so ins neue Schuljahr, wie wir aus dem alten Schuljahr herausgehen", sagte Yvonne Gebauer, Schulministerin Nordrhein-Westfalens, am vergangenen Freitag im ntv "Frühstart". Eine Aussage, die anders gemeint war. Aber man kann sie auch als Bankrotterklärung verstehen.
Quelle: ntv.de