Politik

Schulen in der Pandemie "Wir gehen von sehr großen Lernverlusten aus"

Langsam öffnen die Schulen wieder. "Aber bis alle Klassen wieder Präsenzunterricht haben, werden zahlreiche andere Dinge längst wieder möglich sein", sagt Bildungsforscherin Larissa Zierow.

Langsam öffnen die Schulen wieder. "Aber bis alle Klassen wieder Präsenzunterricht haben, werden zahlreiche andere Dinge längst wieder möglich sein", sagt Bildungsforscherin Larissa Zierow.

(Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto)

Die Wiedereröffnung von Kitas und Grundschulen habe für die Politik "absolute Priorität", hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel zugesichert. Die Bundesländer haben dieses Versprechen nicht eingelöst. "Bis alle Klassen wieder Präsenzunterricht haben, werden zahlreiche andere Dinge längst wieder möglich sein", sagt die Bildungsforscherin Larissa Zierow vom Ifo-Institut.

Ihre Bilanz der Schulpolitik in der Pandemie fällt ernüchternd aus. "Es gab kein einziges Bundesland, das gute, verbindliche Konzepte für täglichen Online-Unterricht hatte." Auch für die nahe Zukunft klingt sie nicht optimistisch. "Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass die Bildungsministerien schon wieder sagen: Wir warten erst mal ab, sobald der Präsenzunterricht losgeht, ist ja wieder alles gut."

ntv.de: Sie haben durch Befragungen von Eltern herausgefunden, dass Schülerinnen und Schüler sich während der Schulschließungen Anfang des Jahres nur gut vier Stunden pro Tag mit Schulstoff beschäftigt haben - mehr als drei Stunden weniger als vor der Pandemie. Hätte das besser laufen können?

Larissa Zierow ist stellvertretende Leiterin des Ifo Zentrums für Bildungsökonomik.

Larissa Zierow ist stellvertretende Leiterin des Ifo Zentrums für Bildungsökonomik.

(Foto: ifo-Institut)

Larissa Zierow: Wir haben bereits im letzten Jahr eine Umfrage gemacht, bei der es um die ersten drei Monate Schul-Lockdown ging. Damals verbrachten Schüler nur die Hälfte der sonst üblichen Zeit mit schulischen Aktivitäten. Die zweite Umfrage zeigte, dass sich diese Zeit im Lockdown seit Ende Dezember ein bisschen erhöht hat - aber wirklich nur ein bisschen.

Das ist also kein Erfolg.

Die Bildungsministerien und die Schulen hatten bis zum zweiten Lockdown viel Zeit, sich umzustellen und täglichen Online-Unterricht anzubieten. Das hat nicht stattgefunden. Wir sehen in der Umfrage, dass nur ein Viertel der Schüler täglichen Online-Unterricht hatte. Zwei Fünftel der Schüler, also fast 40 Prozent, sind maximal einmal pro Woche online mit der Klasse zusammengekommen. Für die meisten Schüler bestand das Lernen vor allem im Bearbeiten von Aufgabenblättern. Das Gefühl, im Klassenzimmer zu sein, zumindest im virtuellen Klassenzimmer, hatten 40 Prozent der Schüler gar nicht. Diese Zahlen haben uns doch sehr erschreckt. Man würde denken, dass innerhalb eines Jahres viel mehr hätte auf die Beine gestellt werden können.

Eltern neigen dazu, den Fehler bei der Schule zu suchen, wenn etwas nicht gut läuft. Lehrkräfte meckern eher über die Schulbehörden und das jeweilige Kultusministerium. Wer hat recht?

Die Verantwortung tragen die Bildungsministerien. Da müssen wir feststellen: Es gab kein einziges Bundesland, das gute, verbindliche Konzepte für täglichen Online-Unterricht hatte. Das ist der Grund, warum es am Ende an der einzelnen Schule oder an einzelnen Lehrkräften lag, ob Online-Unterricht zustande kam oder nicht. Man kann Lehrkräften ja nicht vorwerfen, dass sie sich nicht getraut haben, bestimmte Plattformen zu nutzen, wenn der Dienstherr sagt, dass es bei denen Datenschutzbedenken gibt. Es wäre Aufgabe der Ministerien gewesen, klarzustellen, dass diese Plattformen benutzt werden können.

Gelegentlich heißt es, die Schulen, die am besten durch die Pandemie gekommen sind, seien die, die sich nicht an jede Vorschrift gehalten haben. Ist da was dran?

Ja. Es ist wie in anderen Bereichen auch: Wenn etwas Neues passiert, ist es wichtig, kreativ zu sein. Aber ich kann auch Schulleiter und Lehrkräfte verstehen, die gesagt haben: Oh, da könnte ich später Probleme bekommen. Gerade deshalb wäre es wichtig gewesen, dass die Bildungsminister deutlich machen: Nein, werdet ihr nicht - und wenn es juristische Probleme gibt, dann halten wir dafür unseren Kopf hin.

Tatsächlich ist eher das Gegenteil passiert: Immer wieder gab es Geschichten, wo Eltern Luftfilter oder ein WLAN installieren wollten und von den Schulbehörden gestoppt wurden.

Das ist nur ein anekdotischer Befund, aber solche Geschichten kenne ich auch. Vielleicht war die Alarmstimmung in den Bildungsministerien zu gering, um Maßnahmen zuzustimmen, die kreativer waren als die üblichen bürokratischen Abläufe. Die Leidtragenden waren die Kinder.

Können Sie einschätzen, wie groß der Lernrückstand im Schnitt ist?

In unseren Umfragen können wir nur die Lernzeiten erfragen. Da sehen wir, dass die in allen Gruppen zurückgegangen sind. Vor der Pandemie hat sich ein Schulkind mehr als sieben Stunden am Tag mit schulischen Aktivitäten beschäftigt. Im Verlauf der Pandemie waren es im Durchschnitt zwischen drei und vier Stunden am Tag. Wir haben die Eltern auch gefragt, wie viel ihre Kinder in einer Stunde zu Hause lernen im Vergleich zu einer Stunde in der Schule. Ungefähr 20 Prozent der Eltern sagen, ihre Kinder seien gut im Homeschooling klargekommen. Aber der Großteil der Eltern sagt, dass ihre Kinder zu Hause weniger gelernt haben als in der Schule. Das war vor allem bei Nicht-Akademikern und bei leistungsschwächeren Schülern so.

Also bei Kindern, die es ohnehin weniger leicht haben.

Richtig. Und das deutet darauf hin, dass durch Corona die Bildungsungleichheit noch größer werden wird. Genauere Zahlen dazu haben wir leider nicht, denn in der Pandemie haben in Deutschland keine Lernstandserhebungen stattgefunden. Wir haben deshalb keine Daten, um zu sehen, was Kinder tatsächlich weniger können. Aus anderen Ländern, zum Beispiel aus den Niederlanden, wissen wir, dass die Schüler in den acht Wochen der Schulschließungen viel weniger gelernt haben. Die Differenz entsprach genau der Zeit der Schulschließungen, obwohl es auch dort Distanzunterricht gab - und dort ist die Digitalisierung der Schulen weiter als in Deutschland. Wir nehmen daher an, dass die Lernverluste sehr groß waren.

Haben Sie einen Vorschlag entwickelt, wie die Lernverluste und die Bildungsungleichheiten ausgeglichen werden könnten?

Wichtig ist, dass die Schulen in die Lage versetzt werden, auch unter Pandemiebedingungen guten Unterricht anzubieten. Präsenz-Unterricht kann durch digitalen Unterricht nicht komplett ersetzt werden. Aber guter Online-Unterricht ist immer noch besser, als die Kinder mit Arbeitsblättern alleine zu lassen. Und wir brauchen Maßnahmen zur Kompensation - Ferienkurse, Nachhilfe, Förderunterricht, studentische Mentorenprogramme. Ferienkurse gab es schon im vergangenen Sommer - allerdings zeigt unsere Befragung, dass daran nicht viele Kinder teilgenommen haben. Und zwar haben elf Prozent der Akademikerkinder Ferienkurse besucht, aber nur zwei Prozent der Kinder von Nicht-Akademikern. Das zeigt, dass vermutlich nicht genug Kinder erreicht wurden und vor allem nicht die, die es besonders nötig gehabt hätten.

Bundeskanzlerin Merkel hat beim Impfgipfel Ende April gesagt, es werde im "Herbst eine schwierige Situation an den Grundschulen" geben, dort müsse man sich "auf den Betrieb mit ungeimpften Kindern einstellen". Haben Sie den Eindruck, dass die Länder sich auf diese Situation vorbereiten?

Bis jetzt habe ich dazu noch nicht viel gehört. Sinnvoll wäre dies bestimmt, und entsprechende Konzepte liegen ja vor. Aber ich denke, wir werden nach den Sommerferien eine andere Situation haben, weil die Lehrkräfte und die Eltern dann voraussichtlich vollständig geimpft sein werden. Wie die Lage sich epidemiologisch entwickelt, dazu kann ich nichts sagen. Aber man muss alles versuchen, um die Schulen unter sicheren Bedingungen zu öffnen.

Was halten Sie von der Position, dass die Schulen angesichts der Lernverluste nie hätten geschlossen werden dürfen?

Ich denke, dass es richtig war, auf die Virologen zu hören und exponentielles Wachstum zu verhindern. Aber Schulschließungen müssen immer das allerletzte Mittel sein. Aus meiner Sicht wurde nicht genügend gefragt, was Schulschließungen uns eigentlich kosten - an Bildung, aber auch an psychischer und physischer Gesundheit der Kinder. Wenn bestimmte Schließungen notwendig sind, um die Inzidenzen zu drücken, sollten die Schulen als Letztes betroffen sein. Das wurde zwar angekündigt, aber nicht so gehandhabt. Die Pflicht zum Homeoffice etwa kam erst, als die Schulen längst zu waren. Ich halte das für keine gute Entscheidung. Das haben andere Länder anders gemacht.

Die Bundesregierung, die Bund-Länder-Konferenzen und wahrscheinlich alle Landesregierungen haben in den vergangenen Monaten mehrfach erklärt, Öffnungen im Betreuungs- und Bildungsbereich hätten Priorität, Schulen und Kitas sollten daher als Erstes wieder geöffnet werden. Hat die Politik wenigstens dieses Versprechen gehalten?

Es gibt Öffnungsfahrpläne für die Schulen in den einzelnen Bundesländern. In vielen Bundesländern geht es nach Pfingsten auch an den Grundschulen mit Wechselunterricht los. Aber bis alle Klassen wieder Präsenzunterricht haben, werden zahlreiche andere Dinge längst wieder möglich sein.

Was ist Ihre derzeitige Bilanz der Bildungspolitik in der Corona-Krise?

Die Bilanz fällt ernüchternd aus, gerade wenn man sieht, wie wenig aus dem ersten Lockdown gelernt wurde. Die Pandemie hat gezeigt, welche Probleme es in den einzelnen Ländern an den Schulen gibt, und eines der Probleme in Deutschland ist, dass wir bei der digitalen Bildung nicht gut aufgestellt sind. 2019 gab es dazu eine Studie der EU, in der Deutschland den letzten Platz belegt hat. Es wäre eigentlich höchste Zeit gewesen, in diesem Corona-Jahr aufzuholen. Auch beim Ausgleich von Bildungsungleichheiten sind wir nicht gut. Das hat sich durch die Pandemie noch verstärkt. Am Ende bleibt nur die Hoffnung, dass nach dem Corona-Schuljahr verstärkt in Bildung investiert wird.

Sie klingen nicht optimistisch.

Es gibt das milliardenschwere Nachhilfe-Programm des Bundes. Aber wenn man das mit anderen Ländern vergleicht, dann ist das Volumen relativ klein. Wichtig sind ja auch nicht nur die Ankündigungen, sondern wie sie umgesetzt werden. Und zurzeit sehe ich nicht, dass da viel umgesetzt wird. Manche Bundesländer wollen mit der Nachhilfe erst nach den Sommerferien starten, weil jetzt alle eine Pause brauchen, wie es heißt. Das mag schon sein. Aber die Kinder brauchen jetzt Unterstützung. Viele Kinder werden nicht sechs Wochen Urlaub machen. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass die Bildungsministerien schon wieder sagen: Wir warten erst mal ab, sobald der Präsenzunterricht losgeht, ist ja wieder alles gut.

Mit Larissa Zierow sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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