Politik

Angst in der Ukraine Wenn Russland gewinnt, droht eine neue Flüchtlingswelle

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Geflüchtete aus der Ukraine auf dem Bahnhof Laatzen bei Hannover. Aufnahme vom April 2023.

Geflüchtete aus der Ukraine auf dem Bahnhof Laatzen bei Hannover. Aufnahme vom April 2023.

(Foto: picture alliance/dpa)

US-Präsident Donald Trump könnte Kiew einen Diktatfrieden aufzwingen oder die US-Militärhilfe einstellen. Beides könnte zum Zusammenbruch der Ukraine führen. Auch für das restliche Europa hätte dies gravierende Folgen.

Auf den ersten Blick ist die Ausgangslage für die Ukraine derzeit besser als zu Beginn der großen russischen Invasion am 24. Februar 2022. Natürlich sind drei zähe Jahre dieses Kriegs den Ukrainern und ihrem Land anzumerken. Doch obwohl Russland die strategische Initiative an der Ostfront seit Oktober 2023 hält, sind die russischen Maximalziele offenbar unerreichbar. So scheint es zumindest auf den ersten Blick. Aus "Kiew in drei Tagen" ist ein Meme, ein Internet-Witz, geworden.

Es lässt sich darüber streiten, ob die Russen wirklich davon ausgingen, die Hauptstadt derart schnell zu besetzen. Dass sie ihre "Spezialoperation" binnen weniger Wochen beenden wollten, steht außer Frage. Stattdessen kämpft die russische Armee seit drei Jahren um Ortschaften im Donbass, deren Namen niemand in Russland kennt.

Doch die Gefahr ist real. Die Zukunft der Ukraine als Staat und Gesellschaft steht mindestens genauso auf dem Spiel wie vor drei Jahren. Dabei geht es nicht darum, dass russische Panzer schon bald wieder in der Nähe von Kiew rollen. Kurzfristig wird das nicht passieren. Die Strategie, die Russland seit dem Abzug aus der Hauptstadtregion Ende März 2022 fährt, ist deutlich durchdachter als die Wette auf einen Blitzkrieg. Denn Russland hat Gründe, anzunehmen, für den langen Zermürbungskrieg mehr Ressourcen zu haben als die Ukraine. Zumal Moskau sich auf Verbündete wie Iran und Nordkorea verlassen kann, während Kiew sich nicht mehr sicher sein kann, dass die Unterstützung aus den USA weitergeht.

Russland kämpft nicht nur militärisch, sondern auch mit Lügen

Einen strategischen Durchbruch konnten die russischen Streitkräfte bisher nicht erreichen. Wenn allerdings die logistisch und strategisch wichtige Stadt Pokrowsk besetzt wird, was nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, könnte sich den Russen die Möglichkeit eröffnen, in Richtung der Großstädte Dnipro und Saporischschja am gleichnamigen Fluss Dnipro vorzurücken. Die personellen Probleme der Ukrainer werden von westlichen Medien zwar oft überschätzt. Aber die Gefahr, dass die ukrainische Seite der Front irgendwann kollabiert, besteht.

Ein langer Krieg wird nicht zwingend dadurch entschieden, ob eine der Armeen zehn Kilometer weiter östlich oder westlich steht. Er hängt zu einem nicht unbedeutenden Teil von der Lage im Hinterland ab. Ich habe es immer abgelehnt, den Begriff "kriegsmüde" auf die Ukrainer anzuwenden. Er suggeriert, dass die Ukraine jemals kriegsfroh war. Das waren die Ukrainer auch dann nicht, als militärische Siege gefeiert werden konnten, etwa im Herbst 2022.

Mehrheitlich haben die Ukrainer den Angriffen auf die Energieinfrastruktur widerstanden, mit denen Russland uns zermürben will. Oder den Angriffen auf sozialen Medien wie Tiktok, wo Russland das Thema der Mobilisierung zu diskreditieren versucht.

Auch die angebliche Illegitimität von Präsident Wolodymyr Selenskyj, die US-Präsident Donald Trump sich offenbar von Putin hat aufbinden lassen, wird dort fleißig verbreitet. Oder die These, die Kampfhandlungen würden auch deswegen weitergehen, weil die "da oben" sich bereichern und an der Macht bleiben wollen. Das hat Russland schon im ursprünglichen Donbass-Krieg ab 2014 so gemacht.

Die Angst in Kiew ist größer denn je

Noch ist die Anzahl der Menschen, die solche Positionen teilen, gering. Aber ein Gefühl wie Kriegsmüdigkeit hat Einzug gehalten. Allein die Dauer des Kriegs sorgt dafür, dass viele darüber nachdenken, ob es vielleicht doch einen anderen Weg geben könnte. Dabei gibt es nur einen Mann, der über das Kriegsende wirklich entscheiden kann: Putin. Nicht Wolodymyr Selenskyj. Und auch nicht Donald Trump.

Viele Ukrainer haben auf dessen Präsidentschaft - für mich etwas überraschend - mit gewissem Zweckoptimismus geblickt. "Vielleicht hat das Ganze doch etwas schneller ein Ende als gedacht". Solche Sätze habe ich in den vergangenen Wochen mehrfach gehört. Das ist vorbei. Jetzt dominiert die Befürchtung, der Westen und die USA könnten die Ukraine irgendwann verraten. Das Gefühl ist nicht neu, nur stärker. Schon die US-Administration von Präsident Joe Biden hatte nur so viele Waffen geliefert, dass die Ukraine gerade so überleben konnte.

Nach dem Trump-Putin-Telefonat, geführt noch vor Trumps Gespräch mit Selenskyj, nach der Verhandlungsrunde in Saudi-Arabien und nach dem geradezu unverschämten Vertrag zur Ausbeutung von Bodenschätzen, den die USA der Ukraine aufdrücken wollten, ist die Angst in Kiew größer als je zuvor. Zu Recht.

Es ist fünf vor zwölf

Es gibt sehr unterschiedliche Szenarien, auf die Russland setzen könnte, auch über die derzeitigen Kämpfe hinaus. Die einzig halbwegs wirksame Sicherheitsgarantie für die Ukraine, eine Nato-Mitgliedschaft, ist mit Trump im Weißen Haus noch unwahrscheinlicher geworden. Vielleicht steht die ukrainische Armee militärisch irgendwann so unter Druck, dass Kiew zu einem Waffenstillstand zu russischen Bedingungen gezwungen ist. Es wird in der Ukraine aber immer mindestens ein Fünftel der Bevölkerung geben, das jegliche Verhandlungen mit Moskau ablehnt. Eine innenpolitische Krise wäre dann unvermeidbar. Russland könnte sie ausnutzen - politisch oder militärisch.

Vielleicht kommt es so weit, dass irgendwann nach einem halbgaren Waffenstillstand eine mindestens verdeckt pro-russische Partei auch in der Ukraine gewinnt, die einen nicht eindeutigen Kurs zwischen Europa und Russland geht. Es wäre eine Abkehr nicht nur vom Westen, auch von der Demokratie. Heute ist das kaum vorstellbar. Aber wer weiß, was passiert, wenn der Westen die Ukraine im Stich lässt. Vielleicht sorgt die Einstellung der US-Hilfen durch Trump dafür, dass Russland diesen Krieg militärisch gewinnt. Vielleicht dauert der Krieg auch so lange, dass die Ukraine schlicht von innen zerfällt.

Um es deutlich zu sagen: Ich glaube nicht, dass das russische Kalkül voll aufgehen wird. Es wäre aber naiv zu glauben, dass diese Szenarien unrealistisch sind. Wenn Putin und Trump der Ukraine einen Diktatfrieden aufzwingen oder das Land ausbluten lassen, dann hat das Folgen für das übrige Europa. Dann kann nicht ernsthaft ausgeschlossen werden, dass in den nächsten zehn Jahren viele Millionen Flüchtlinge in Richtung Westen ziehen, auch nach Deutschland.

Und selbst in dem Fall, dass in Kiew eine nur verdeckt pro-russische Partei regiert, wäre es unvermeidlich, dass latent oder offen russlandfreundliche Kräfte in Europa massiv an Unterstützung gewinnen - schon aus Angst vor Russland. Es ist in jeder Hinsicht fünf vor zwölf: militärisch, politisch, humanitär. Nicht nur in der Ukraine, sondern auch für Deutschland und Europa.

Quelle: ntv.de

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