Tories suchen den Cameron-Nachfolger Wer reicht in Brüssel die Scheidung ein?
26.06.2016, 08:17 Uhr
Theresa May könnte die Brexit-Befürworter und Gegner in der konservativen Partei wieder zusammenführen.
(Foto: REUTERS)
Brexit-Guru Johnson ist zwar der aussichtsreichste, aber nicht der einzige Anwärter auf die Nachfolge von Premier Cameron. Den Tories wird ein parteiinternes Duell kaum erspart bleiben. Vor allem wegen einer Frau, die bisher auffällig still war.
David Cameron will das alte Schiff Großbritannien noch die nächsten Wochen und Monate auf Kurs halten. Das sagte der Premierminister des Vereinigten Königreichs am Tag, nachdem sich die Mehrzahl seiner Landsleute entschieden hat, sich von der Europäischen Union zu entfernen. Doch er fügte hinzu: "Es wäre falsch, wenn ich versuchen würde, unser Land als Kapitän an sein nächstes Ziel zu steuern."
Cameron gibt seinen Posten als Regierungschef auf. Spätestens bis zum Parteitag der Konservativen im Oktober soll ein Nachfolger das Amt übernehmen – und der soll Artikel 50 der EU-Verträge aktivieren. Jenen Artikel, der die Scheidung von der Gemeinschaft endgültig einleitet.
Wer wird dieser Jemand sein? Es gibt mit Boris Johnson einen klaren Favoriten. Doch es existiert noch ein Dutzend weiterer Kandidaten. Und den Tories wird am Ende ein Duell kaum erspart bleiben.
Johnson ist in der Pflicht
Der frühere Londoner Bürgermeister Johnson, der das "Leave"-Lager anführte, hat sich bisher noch nicht zu einer offiziellen Kandidatur hinreißen lassen. Selbst Parteikollegen sagen über ihn, dass er von seinem eigenen Erfolg überrascht wurde. Ein Vertrauter Johnsons behauptete dem britischen Boulevardblatt "Sun" zufolge am Tag nach der Abstimmung: "Heute war ein verdammter Schock für ihn." Er habe nicht damit gerechnet, dass die Brexit-Befürworter sich tatsächlich durchsetzen.

Boris Johnson hat sich noch nicht offiziell dafür ausgesprochen, den Posten des Premiers zu übernehmen. Parteikollegen sagen ihm eine Schockstarre angesichts des überraschenden Brexit-Erfolges nach.
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Seiner Siegesrede war zudem deutlich anzuhören, dass es ihm Leid tat um seinen alten Weggefährten Cameron. Johnson pries den Premier in höchsten Tönen.
Doch es wird damit gerechnet, dass Johnson sich in der nächsten Woche erklärt – wie könnte er auch anders. Kein Wahlkämpfer der "Leave"-Kampagne war so mitreißend wie er. Johnson ist der klare Gewinner des Referendums. Wer, wenn nicht er, ist in der Pflicht, die Trennung von der EU umzusetzen?
May ist ein Gegenentwurf
Seinen Erfolg hat Johnson auch seinem scham- und grenzenlosen Populismus zu verdanken. Damit hat er sich nicht nur Fans, sondern auch viele Feinde gemacht – auch in den eigenen Reihen. Davon könnte nun Theresa May profitieren. Die langgediente Innenministerin dürfte sich zur schärfsten Konkurrentin Johnsons entwickeln und die Mehrzahl seiner Gegner hinter sich versammeln, denn sie hat während Wahlkampfes um das Referendum fast alles richtig gemacht.
May zählt, obwohl sie durchaus euroskeptisch ist, zum Flügel der Fürsprecher des Verbleibs in der EU. Doch im Wahlkampf hielt sie sich so sehr zurück, dass einige ihr das schon vorwarfen. Genau das ist jetzt ihr Vorteil. Man kann May nicht nachsagen, dass sie im Duell mit Johnson schon einmal verloren habe. Gleichzeitig hat sie das Brexit-Lager der Tories nicht gegen sich aufgebracht.
Dieses Schicksal hat George Osborne ereilt. Der Schatzkanzler der Tories galt einst als natürlicher Nachfolger Camerons. In der "Remain"-Kampagne war er neben dem Premier der lauteste Wahlkämpfer. Die Niederlage Camerons ist auch seine Niederlage. Von Brexit-Befürwortern aus seiner Partei kann er sich keinen Rückhalt mehr erhoffen.
May wiederum erscheint auch deshalb als geeignete Kandidatin, weil sie ein klarer Gegenentwurf zum schrillen Johnson ist. Die 59-Jährige gilt als so nüchtern, dass nicht nur die Boulevardpresse bereits fragte: "Hat sie ein Herz?" Vor allem steht May aber für Verlässlichkeit, woran vielen Konservativen gelegen ist – Brexit hin oder her. May ist die am längsten dienende Innenministerin in Großbritannien seit 100 Jahren. Die Analysten mehrerer britischer Zeitungen glauben, dass sie das Zeug zur Konsenskandidatin haben könnte, die das Lager der Brexit-Gegner und Befürworter bei den Tories wieder zusammenführen könnte.
Michael Gove, Stephen Crabb und Nicky Morgen, Andrea Leadsom und Ruth Davidson – die Liste von Tories, die gern Camerons Platz übernehmen würden, oder von anderen gern an dessen Stelle gesehen werden, ist sehr lang. Doch derzeit sieht es so aus: Wenn überhaupt jemand den nächsten Schritt auf der Karriereleiter von Boris Johnson gefährden kann, dann ist es Innenministerin May.
Quelle: ntv.de