Referendum trotz Widerständen Wie Schottland so weit kommen konnte
18.09.2014, 20:45 UhrDie klassischen Parteien und die klassischen Medien Schottlands sind gegen die Spaltung des Landes. Weil viele Schotten aber unbedingt unabhängig werden wollen, mussten sie ihr Ziel auf anderen Wegen verfolgen.
Auf die Frage, warum die Schotten unabhängig sein wollen, gibt es eine kurze, ergreifend klare Antwort: "Jeder will doch unabhängig sein", sagen die Befürworter. Wer sich in erster Linie als Schotte und nicht als Brite fühlt, will nach schottischen Gesetzen leben und seine Steuern nicht nach London abführen.
Die Schotten schreiben am 18. September womöglich Geschichte: Mit einem kleinen Kreuz können sie darüber entscheiden, ob ihr Land nach mehr als 300 Jahren Zugehörigkeit zu Großbritannien ein eigener Staat wird oder britisch bleibt. Lesen Sie hier die wichtigsten Texte, Reportagen und Interviews zum Referendum von n-tv.de:
Das Nationalgefühl ist die Grundlage dafür, dass viele Schotten nun ernst machen wollen mit der Unabhängigkeit. Aber es wäre falsch, die Sache darauf zu reduzieren. Wenn man sich unter den Freiwilligen in der "Yes"-Kampagne umhört, bekommt man ganz unterschiedliche Geschichten zu hören, von denen viele überzeugend sind.
Da ist zum Beispiel David, ein Unternehmer mit einer kleinen Softwarefirma, die Menschen in Schottland, Ungarn und den USA beschäftigt. Er sagt, dass die britische Wirtschaft falsch organisiert sei. Die Menschen arbeiten in einem der wenigen großen Konzerne oder in ganz kleinen Unternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern. Der Mittelstand – er benutzt das deutsche Wort – werde nicht gefördert. Er schwärmt von dem Konzept der Kreissparkassen und Raiffeisenbanken, das er in Deutschland kennenlernte. In Großbritannien gäbe es nur große Investmentbanken, die sich nicht dafür interessierten, kleinen Firmen beim Wachsen zu helfen.
Dann ist da Tony, der es ablehnt, in einem Staat mit Atomwaffen zu leben. "Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der ich wollte, dass jemand diese Waffen abfeuert", sagt er. Er hat diese Haltung seit Jahren, engagierte sich aber nie richtig. Erst jetzt sieht er die Chance gekommen, etwas zu erreichen. Wenn Schottland unabhängig würde, müsste Großbritannien seine Nuklearraketen abziehen – und vielleicht dann ganz verschrotten, hofft Tony. Außerdem wünscht er sich eine kostenlose Ausbildung für seine Kinder.
Man kann Ärzte und Krankenschwestern treffen, die sich um das Gesundheitssystem sorgen, Umweltschützer, die meinen, dass es in Edinburgh mehr Wertschätzung für die wunderschönen Highlands gibt als in London, und viele weitere, die alle einen guten Grund haben, von der Politik enttäuscht zu sein. Wenn es zur Unabhängigkeit kommt, werden einige von ihnen sicher schon bald enttäuscht sein – auch das schottische Parlament müsste unbequeme Entscheidungen treffen. Aber viele trauen die Vertretung ihrer Interessen der schottischen Politik eher zu als der britischen.
Edinburgh macht London vor, wie es geht
Dass sich Menschen von ihren Politikern immer weniger vertreten fühlen, ist nicht nur in Schottland so. Europaweit sinken die Wahlbeteiligungen und steigen Protestparteien auf. Doch das Vereinigte Königreich ist ein besonderer Fall. Zum einen beruht die Westminster-Demokratie darauf, dass jeder Wahlkreis einen Abgeordneten nach London entsendet – was kleinen Parteien kaum eine Chance gibt. Zum anderen gibt es im Parlament immer noch Überreste der Monarchie: Im Oberhaus können Adelige über Gesetze entscheiden, im Unterhaus wirken die Rituale wie aus der Zeit gefallen. Die britische Demokratie war mal eine der modernsten der Welt. Doch jetzt ist sie in die Jahre gekommen.
Als die Schotten dagegen vor 15 Jahren ein eigenes Parlament bekamen, bauten sie eine moderne Demokratie auf. Schon das Gebäude vermittelt in jeder Hinsicht Offenheit gegenüber den Bürgern, praktisch zu jeder Zeit kann man hinein. Die Ausschusssitzungen werden ins Internet übertragen, das Wahlsystem funktioniert ähnlich wie in Deutschland. Die politische Kultur, die sich in Edinburgh entwickelt habe, sei mit dem aggressiven Stil in London nicht zu vergleichen, sagt die Abgeordnete Alison Johnstone. Dass das neue Parlament so gut funktioniert, machte die Kampagne für die Unabhängigkeit erst möglich.
Lange wollten die schottischen Abgeordneten keinen eigenen Staat. Das lag auch daran, dass im Parlament Labour, Tories und Liberale die Mehrheit hatten, also die Parteien, die auch in London das Sagen haben. 2011 holte dann aber die Scottish National Party, die sich für die Unabhängigkeit einsetzt, die absolute Mehrheit – und trieb von da an ihr Projekt voran.
Gegen die großen Medien
Die Unterstützer an der Basis der Kampagne legen Wert darauf, dass sie die meiste Arbeit machen und für die guten Umfragewerte verantwortlich sind. Vor gut zwei Jahren gründeten sich die ersten Unterstützerkreise und kopierten die Wahlkampagnen der britischen Parteien. Die schicken vor jeder Wahl ein Heer aus Freiwilligen los, um an möglichst viele Türen zu klopfen und ihre Argumente vorzutragen. In nahezu allen Orten in Schottland gibt es solche Gruppen, außerdem fanden sich schottlandweit Frauen zusammen, Unternehmer, Einwanderer, Studenten, Anwälte, Sportler und so weiter. "Wir wussten, dass wir Frauen ganz anders ansprechen müssen, wenn wir sie gewinnen wollen", sagt Kate Higgins, eine der Gründerinnen der "Women for Independence". Die Kampagnen im Fernsehen und die Hausbesuche würden dazu nicht ausreichen. Darum veranstalteten die Frauen Infoabende, kleine Partys und Aktionen in Altenheimen.
"Es wird oft übersehen, dass 'Yes Scotland' eine Graswurzelkampagne ist", sagt die Aktivistin. Denn die klassischen Medien bezogen sehr früh einseitig Position. Ob die Zeitungen "Scotsman", "Telegraph", "Times" und "Guardian" oder die eigentlich zu Überparteilichkeit verpflichtete BBC: Sie alle stellten vor allem die Risiken der Unabhängigkeit heraus. Einzig der "Herald on Sunday", eine schottische Wochenzeitung, sprach sich deutlich für die Spaltung aus – während die Mutterzeitung, der "Herald", klar dagegen ist.
Weil die klassischen Medien ausfielen, nutzte die Kampagne vor allem Twitter zur Information und Mobilisierung der Freiwilligen. Veranstaltungen wurden über Facebook beworben. Auch die älteren Unterstützer haben mittlerweile alle Accounts bei den Netzwerken. "Vor zehn Jahren, ohne diese Medien, wäre das alles nicht möglich gewesen", sagt die Politikerin Johnstone.
Quelle: ntv.de