Politik

Sicherheit oder Freiheitsgefühl Wie viel "Überwachungsstaat" darf es sein?

Seit Jahren wird in Deutschland über den Ausbau der Videoüberwachung gestritten. Sicher ist: Sie hilft bei der Aufklärung von Verbrechen. Aber wirkt sie auch präventiv?

Kriminalpolizisten glauben schon aus Gründen der Eigenmotivation nicht an das perfekte Verbrechen. Ihr Leitmotiv lautet: Dich kriegen wir! Bei der Suche nach dem vermissten Potsdamer Jungen Elias im Sommer 2015 bekam dieser Glaubenssatz zeitweise einen Riss. Trotz mehr als 1000 Hinweisen gab es keine noch so winzige Spur zu dem Entführer. Doch dann schnappte die Berliner Polizei den Mörder des kleinen Mohamed. Wenig später stellte sich heraus: Der Brandenburger hatte auch Elias umgebracht. Er konnte mit Hilfe eines Fahndungsfotos, aufgenommen von einer privaten Überwachungskamera vor einer Kneipe in Moabit, gefasst werden.

Bahnhöfe, Flughäfen und andere öffentliche Orte werden von der Bundespolizei auch per Video überwacht. Rund 8.000 Kameras sind dazu bundesweit installiert.

Bahnhöfe, Flughäfen und andere öffentliche Orte werden von der Bundespolizei auch per Video überwacht. Rund 8.000 Kameras sind dazu bundesweit installiert.

(Foto: dpa)

Der Fall war geklärt, Berlin und Potsdam atmeten auf. Der Gastwirt aber bekam Ärger. Er erhielt eine Strafanzeige wegen Verstoßes gegen den Datenschutz. Bei öffentlichem Straßenland darf maximal ein Meter ab der Gebäudewand gefilmt werden – der Lokalbetreiber beschattete den ganzen Weg vor seinem Etablissement. Die Aufzeichnungen dürfen höchstens 24 Stunden aufgehoben werden – der Kneipier ließ sie tagelang ungelöscht. Die Landesdatenschutzbehörde prüfte den Sachverhalt wochenlang. Am Ende verzichtete sie "unter Berücksichtigung der allseits bekannten Umstände des Einzelfalls" auf eine Strafe.

Der Streit steht exemplarisch für das Ringen zwischen Befürwortern und Gegnern um ein Mehr oder Weniger an Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Hier die Polizei, die heilfroh ist, Straftaten rasch aufklären zu können – im Falle des Kindermörders war es nach Expertenmeinung nur eine Frage der Zeit, wann der Täter wieder zugeschlagen hätte. Dort die Datenschützer, die in jeder neuen Kamera einen weiteren Schritt in Richtung Überwachungsstaat sehen. 

Seit vielen Jahren – und nicht erst seit den islamistischen Anschlägen von Paris, Nizza oder Berlin – ist der Zuspruch in der Bevölkerung für Videoüberwachung sehr hoch. Je nach Umfrage liegt er zwischen 60 und mehr als 80 Prozent. Wobei der Begriff der "Überwachung" suggeriert, permanent säßen Sicherheitskräfte vor Abertausenden Bildschirmen und schauten, was da draußen vor sich geht. Das ist nicht der Fall. In privater Umgebung wird zwar tatsächlich so vorgegangen. Die Polizei aber hätte nicht ansatzweise genügend Personal dafür. Sie wertet Filme aus, wenn eine Straftat begangen worden ist.

Wie so oft im föderalen Deutschland gibt es keine einheitlichen Vorgaben in Bund und Ländern. Ein öffentlich zugängliches, privat betriebenes Einkaufszentrum, ein Fußballstadion oder der öffentliche Bereich unmittelbar vor der eingangs genannte Kneipe unterliegen dem jeweiligen Landes- bzw. Bundesdatenschutzgesetz, die Kameras werden von Privatpersonen oder Privatgesellschaften installiert, die Bilder dürfen nicht länger gespeichert werden. Über die Aufstellung von Kameras auf einem Marktplatz wiederum entscheiden Städte und Gemeinden, meist in Abstimmung mit dem Landesdatenschutzbeauftragten. Die Bundespolizei wiederum überbewacht Bahnhöfe und Flughäfen und damit mehr als 8000 Kameras. Diese Aufnahmen dürfen 30 Tage lang aufgehoben werden.

Fahndungserfolge nicht von der Hand zu weisen

Sicher ist: Die Aufzeichnungen führen zu schnellen Fahndungserfolgen, wie zuletzt die rasch aufgeklärten Fälle in Berlin zeigen, etwa der des U-Bahntreters oder der Versuch, einen Obdachlosen zu verbrennen. Ob mehr Kameras auch präventive Wirkung entfalten, darüber wird seit Jahren gestritten. Ein Nachweis ist nahezu unmöglich. Der Polizeilichen Kriminalstatistik für 2015 zufolge sank die Zahl der Körperverletzungen in Berlin mit 40.675 Fällen auf den niedrigsten Stand seit zehn Jahren. Nach Angaben der Landesregierung lag die Zahl der Rechtsverfehlungen in den mit Kameras ausgestatteten Berliner U-Bahnhöfen aber in den ersten sechs Monaten 2016 ungefähr auf Vorjahresniveau.

Michael Böhl, Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter von Berlin-Brandenburg, begegnet der Statistikdebatte mit Sarkasmus: "Bisher ist kein einziger Ganove zu uns gekommen und hat erklärt: 'Aus Furcht vor der Videokamera habe ich die Tat nicht begangen.'" Er sei sicher, dass Kameras auch präventive Wirkung entfalteten, "weil Täter fürchten, entdeckt zu werden." Was nicht heiße, dass nicht auch mehr Polizei auf Streife nötig sei, wie es die Gegner der Kameras befürworten.

Auch in der Politik wird über das Für und Wider heftig gestritten. CDU, CSU und AfD sind für mehr Videoüberwachung, Grüne, Linke und FDP dagegen. Der Kurs der SPD ist nicht eindeutig. In den Verhandlungen zur Berliner Koalition gaben die Sozialdemokraten Grünen und Linke nach und ließen ihre Forderung nach mehr Kameras fallen. Kurz nach dem Terroranschlag vor Weihnachten blieb der Regierende Bürgermeister Michael Müller von der SPD bei dieser Haltung, ehe er sie zum Jahreswechsel aufweichte.

Im Bundestag wiederum signalisierten die Sozialdemokraten von Anfang an Zustimmung für den Vorstoß von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, die Möglichkeiten zum Einsatz von Videotechnik in Einkaufszentren und anderen öffentlich genutzten Orten in privater Hand auszuweiten. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat ein entsprechendes Positionspapier zur inneren Sicherheit erarbeitet, das diese Haltung untermauern soll. "Die Videoüberwachung ist weder ein Allheilmittel, noch sollte man sie dämonisieren", sagte sein Stellvertreter Ralf Stegner. "Aber wir können unmöglich flächendeckende Videoüberwachung wollen."

Das jedoch wollen die Befürworter auch gar nicht. Kriminalpolizist Böhl etwa plädiert für temporäre Einsätze an Kriminalitätsschwerpunkten. "Man kann die Kameras ja auch wieder abbauen."

Quelle: ntv.de

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