Expertin zum Trauma Israels "Wir ertragen einander nicht mehr"
06.10.2024, 13:05 Uhr
Im Schmerz verhärtet: Am Streit um einen Deal mit der Hamas zur Befreiung der Geiseln zerbricht die Gesellschaft.
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Nun jährt sich der Tag, der Israel erschüttert hat: der Gewalt-Exzess der Hamas nahe der Grenze zum Gazastreifen. 1200 Menschen wurden bestialisch ermordet. Die Überlebenden kämpfen mit ihrem Schicksal, manche ein Leben lang.
ntv.de: Frau Avirame, Sie forschen zu Posttrauma und arbeiten in einer Klinik, in der Opfer des 7. Oktober Hilfe finden. Das sind ganz verschiedene Menschen - befreite Geiseln, Überlebende aus Kibbuzim oder vom Nova-Festival, Soldaten. Wie finden diese Leute zurück ins Leben?
Keren Avirame: Manche von ihnen werden ein Leben lang auf psychologische Unterstützung angewiesen sein. Aus solch einer Krise entsteht auch viel Belastung für die gesamte Bevölkerung - durch Ängste, durch Depression. Die meisten Menschen entwickeln nach einem traumatischen Erlebnis aber nicht unbedingt das, was wir eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) nennen. Darum ist es nicht automatisch gut einzugreifen. Und auch nicht jeder Moment ist gut, um einzugreifen.
Was kann ein falscher Zeitpunkt sein?
Keren Avirame ist Forschungs-Direktorin in der Psychiatrie des Tel Aviv Sourasky Medical Center. Viele Terroropfer des 7. Oktober werden dort behandelt.
Wenn ein Soldat Traumatisches erlebt hat, er aber bald wieder zurück in den Krieg gerufen wird, ist das kein guter Moment, um das Erlebte zu verarbeiten. Wenn eine Geisel befreit wurde, aber einige, die mit ihr in Gefangenschaft waren, immer noch in der Gewalt der Hamas sind, ist noch nicht die Zeit gekommen, um das zu verarbeiten. Generell müssen Betroffene dann zu uns kommen, wenn sie ein Problem spüren. Es kann Monate, aber auch Jahre dauern, bis sie bereit sind, ihrem Trauma zu begegnen. Es gab für uns viel zu lernen in diesem Jahr, und wir haben viel gelernt.
Gab es überhaupt einen Forschungsstand und Kenntnisse, an denen Sie sich orientieren konnten?
Zu Posttrauma wird in Israel viel geforscht, da gibt es Expertise. Was man aber durchmacht, wenn man von Terroristen entführt und gefangen gehalten wird - darüber gibt es weltweit nicht viel Forschung, wir haben also viel Neuland betreten. Austauschen konnten wir uns mit US-Kollegen, die nach dem 11. September 2001 Methoden entwickelt haben, die sich "Krisen-Psychologie" nennen. In dieser Zusammenarbeit haben wir einiges darüber gelernt, wie wir schnell sein können. Schnell Leute ausbilden, damit sie helfen können, auswerten, verstehen, was vor sich geht - ohne dass sie ausgewiesene Experten für Trauma sind. Wir bekommen auch Erkenntnisse aus der Ukraine, wo ein großer Teil der Bevölkerung lokal unterstützt wird oder von NGOs. Es ist noch schwieriger, Hilfe anzubieten, wenn man sich selbst mitten im Krieg befindet, die Situation sich täglich ändert. Wir mussten unsere Erkenntnisse und Methoden immer wieder anpassen.
Inwiefern haben Sie die angepasst?
Die Belastungen sind so verschieden. Bewohner aus den Kibbuzim, Überlebende des Festivals, Soldaten, die sind auf ganz unterschiedliche Art traumatisiert. Aber auch zum Beispiel Militärangestellte, die Leichen der Verstorbenen bergen mussten. Sie sahen Tote in jedem erdenklichen Zustand, wochenlang waren sie diesem Anblick ausgeliefert. Viele dieser Leute sind sehr religiös, wir haben also versucht, ihnen mithilfe ihrer Gemeinden und Rabbinern Hilfe an die Hand zu geben. Dann gab es Soldaten, deren Aufgabe es war, Informationen über das Massaker zu sammeln, darüber, was mit einzelnen Opfern passiert ist. Dafür mussten sie auch Videomaterial nutzen.
Die Filme, die Hamas-Terroristen gedreht und ins Netz gestellt haben?
Es existiert viel Material dieser Art, ja. Diese Filme haben die Soldaten gesichtet, immer und immer wieder, Stunde um Stunde, um Opfer zu identifizieren und herauszufinden, was mit wem passiert ist. Wir haben also Methoden entwickelt, um sie zu unterstützen. Und auch Therapeuten selbst brauchten und brauchen Unterstützung. Als Therapeutin muss ich das ja auffangen, wenn jemand um sein Leben gerannt ist, wenn jemand sich in seinem Haus versteckt hat, das dann angezündet wurde. Die Kette der Traumata ist endlos. Am Ende des Tages müssen wir verstehen, was der Kern des Traumas ist und auch, was die Person in der Lage ist zu verarbeiten.
Das klingt fast so, als müsste man bei jedem einzelnen Patienten eigentlich fast neu anfangen.
Wir müssen wirklich sehr flexibel arbeiten, aber zugleich sehr strukturiert und ständig im Austausch über unsere Erfahrungen: Was hat funktioniert und womit kamen wir nicht weiter? Warum haben Patienten ihre Behandlung womöglich abgebrochen? Wie gestalten wir unser Angebot passgenauer für diejenigen, die Hilfe brauchen? Für mein Empfinden haben wir in diesem einen Jahr sehr viel und schnell gelernt und waren sehr pragmatisch. Es ging immer um Lösungen. Auch darum herauszufinden, wer eine Behandlung braucht und wer besser fährt ohne Therapie. Vielleicht nur mit etwas Unterstützung, das nennen wir "Psycho-Education". Es bedeutet, Leuten bestimmte psychologische Vorgänge zu erklären. Und auch, sie zu ermutigen, in ihren Alltag zurückzukehren, in ihr Umfeld, an ihren Arbeitsplatz. Wenn es darum geht, Schreckliches zu verarbeiten, ist es am Ende das Leben selbst, das dabei am meisten hilft.
Höre ich bei Ihnen vorsichtige Zuversicht, dass viele der Traumatisierten es schaffen können, in einen lebenswerten Alltag zurückzukehren?
Was Zuversicht gibt: Vor 70, 80 Jahren kamen Überlebende des Holocaust in dieses Land, das sie nicht kannten. Ihnen war nichts mehr geblieben in dieser Welt, und dann haben sie sich ein neues Leben aufgebaut. Nicht allen ist das gelungen, es wurde kaum gesprochen über ihre Erlebnisse in jener Generation. "Aus Auschwitz kommst du nie wieder raus", so sagen wir hier in Israel. Aber einige sind rausgekommen, sie haben das hinter sich gelassen, sich dem Leben wieder zugewandt, Familien gegründet. Das war eine andere Generation als heute, stärker in vielerlei Hinsicht. Aber heute haben wir mehr Mittel an der Hand, wir sprechen offener und Israelis sind sehr resilient.
Es kommt aber auch noch vieles auf uns zu. Bei Soldaten zum Beispiel tritt oft erst später die sogenannte "moralische Verletzung" ein. Sie sahen furchtbarste Dinge und konnten sie nicht verhindern. Vielleicht waren sie auch zu Handlungen gezwungen, die sie selbst moralisch nicht vertreten können. Vielen der Geiseln wird das ähnlich gehen. Diese Erfahrung, das eigene Unvermögen in der Extremsituation, holt die Leute dann sehr viel später wieder ein. Und solange noch Geiseln in Gaza gefangen sind, können wir vielen der Befreiten psychologisch kaum helfen.
101 Geiseln sind in der Gewalt der Hamas, während wir hier miteinander sprechen. Familien und Freunde der Entführten kämpfen für ihre Freilassung. Eine solche Aufgabe kann auch helfen, erstmal weiterzuleben mit diesem Schmerz. Aber nun jährt sich der Tag des Massakers und sie haben nichts erreicht. Wie ist das auszuhalten?
Die Geiselfamilien sind jetzt ein Jahr lang überall in der Welt gewesen, um zu sprechen, um Hilfe zu erbitten und einen Deal zu fordern. Die meisten von ihnen haben ihr bisheriges Leben verlassen. Sie gehen nicht mehr arbeiten, ihr Leben dreht sich nur noch um diesen Kampf und ich glaube, sie haben ganz einfach keine andere Wahl, als weiterzumachen. Manche von ihnen haben ihre Kraft eingebüßt in den vergangenen Monaten, aber dann macht jemand anderes weiter. Wenn die Mutter nicht mehr kann, spricht die Tochter. Oder der Neffe. Irgendjemand setzt das fort und erinnert an die Entführten.
Wenn wir einmal auf den psychischen Zustand der israelischen Gesellschaft als Ganzes schauen: Sind die Menschen noch berührbar für das Schicksal der Geiseln? Oder verschließen sich viele, womöglich auch, um sich selbst zu schützen?
Der Kampf der Geiselfamilien wird von vielen unterstützt. Viele Israelis gehen samstags zu den Protesten, tragen die gelbe Schleife, das Symbol der Geiseln, beenden ihre Emails mit dem Wunsch, dass die Entführten so schnell wie möglich zurückkehren mögen. Dann kam vor wenigen Wochen der Tag, als sechs Geiseln erschossen wurden. Nur ein, zwei Tage, bevor die Armee ihr Gefangenenlager erreicht hätte. Das hat uns das Herz gebrochen.
Im Jahr 2011 hat Israel schon einmal einen Deal mit dem Feind gewagt. Für den entführten Soldaten Gilad Shalit. 1027 palästinensische Häftlinge kamen damals frei, um das Leben einer einzigen Geisel zu retten. Das klingt nach radikaler Wertschätzung des individuellen Lebens. Warum tut Israel jetzt nicht alles, was möglich ist, um die 101 Geiseln nach Hause zu holen?
Zu Gilad Shalit: Die meisten Israelis gehen zum Militär und werden trainiert für Situationen wie diese, zum Beispiel, entführt zu werden. Eine wichtige Maxime, eine sehr grundlegende Wertvorstellung dabei ist, dass unser Land, dass die Regierung sehr viel tun würde, um jemanden zu befreien. Jetzt aber tut die Regierung nichts. Ein Grund dafür ist der Anteil messianischer Juden in der aktuellen Regierung. Diese Nationalreligiösen sind Teil der Koalition, und ihrer Überzeugung nach ist es etwas Gutes, Opfer zu bringen. Opferbereitschaft für den Besitz eines Landes, für die Eroberung, für Macht und Überlegenheit. An solche Dinge glauben sie. Einen Deal mit der Hamas wie damals, um die Geiseln zu retten, lehnen sie ab. Genau wie damals auch, aber jetzt haben sie die Macht, ihn zu verhindern.
Ein Konflikt kann in einer Gesellschaft tiefe Gräben ziehen. Wenn es aber um Leben und Tod geht, wie kann man zwischen den Lagern überhaupt miteinander reden? Wie erträgt man den anderen und die andere Position?
Wir ertragen einander nicht mehr. Wir reden nicht mehr. Der vielleicht einzige Ort, an dem diese unterschiedlichen Überzeugungen überwunden werden, ist die Armee. Miteinander für das Land zu kämpfen, ist eine sehr spezielle Situation. Im Grunde genommen bist Du verantwortlich dafür, ob der Kamerad neben Dir lebt oder stirbt. Und wenn Du konstant auf dieser Kante zwischen Leben und Tod balancierst, dann kannst Du gegensätzliche Überzeugungen, ein völlig anderes Werteverständnis beiseiteschieben. Aber ich glaube, das geht nur da. Wenn ich sehe, wie der Nachwuchs der Nationalreligiösen in palästinensischen Siedlungen marodiert, Tiere tötet, Häuser in Brand steckt, Menschen verletzt, dann empfinde ich persönlich Ekel und Hass.
Als Gilad Shalit im Tausch gegen 1027 Häftlinge freikam, hieß der damalige Premier Israels Benjamin Netanjahu. Diese extremen Parteien sind nur der kleine Koalitionspartner. Bibi könnte sich durchsetzen und auch jetzt einem Deal zustimmen. Wie damals.
Aber jetzt braucht Netanjahu die Nationalreligiösen und den Krieg, um sich an der Macht zu halten. Ein Ende seiner Koalition, ein Ende des Krieges - beides würde ihm immens schaden, weil er dann vor Gericht für alte Vergehen zur Rechenschaft gezogen würde. Krieg ist also gut für Bibi, denn dadurch befinden sich die Israelis permanent im Ausnahmezustand, in einer Art "Überlebensmodus". Als die sechs Geiseln getötet wurden, gewannen die Demonstrationen für einen Deal mit der Hamas wieder sehr an Zulauf. Was passierte? Israel attackierte Hisbollah mit den Pagern. Anschließend die Bodenoffensive. Dann die Raketen aus dem Iran. Als nächstes der israelische Gegenschlag? Als Gesellschaft können die Israelis kaum noch mithalten. Jedes Ereignis, jede Empfindung wird am nächsten Tag von etwas Neuem überschrieben, wenn nicht noch am selben Tag. Wie können wir heilen, wenn es Kräfte gibt, die sich am Krieg laben?
Mit Keren Avirame sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de