Helferin berichtet aus Bachmut "Wo früher Müllhalden waren, liegen Berge von Leichen"
15.02.2023, 19:50 Uhr
In Bachmut ist "alles mit Leichen zugedeckt", berichtet Helferin Hamaza aus der ostukrainischen Stadt.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Wiktorija Hamaza lebt in der Stadt Tscherakssy in der Zentralukraine und ist Journalistin. Für ihre Arbeit hat die 32-jährige seit dem russischen Überfall auf ihr Land aber keine Zeit: Als freiwillige Helferin ist sie permanent in unmittelbarer Nähe der Frontlinie unterwegs. Für ihren Einsatz wurde sie vom Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj im Oktober mit einem Orden ausgezeichnet. In der letzten Zeit fährt die junge Frau zusammen mit ihrem Freund sehr oft nach Bachmut, um ukrainische Soldaten mit Lebensmitteln und Ausrüstung zu versorgen. In der seit Monaten hart umkämpften und nahezu zerstörten Stadt verharren aber auch weiterhin Hunderte Zivilisten.
In einem Bericht erklärt die 32-Jährige, warum die Menschen Bachmut nicht verlassen. Sie schildert auch die Schrecken und Gräuel, deren Zeugin sie jeden Tag wird. Aufgezeichnet wurde der Bericht von Journalisten des unabhängigen belarussischen Nachrichtenportals Zerkalo.io. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion erscheint der Text nun auch bei ntv.de.
Vor dem Krieg war Bachmut eine nette Stadt. Ich erinnere mich an die vielen Blumen, die schöne Architektur, die Gemütlichkeit. Es war so lebendig! Bis zuletzt hielten die Menschen durch, pflegten ihre Stadt. Jetzt liegt Bachmut in Trümmern. Weder bei Tag noch bei Nacht kommt es zur Ruhe. Nachts sieht man von Weitem ein feuriges Glühen über der Stadt – wie Sonnenaufgang, nur ohne Sonne. Bachmut spricht die Sprache der Schüsse und der Zerstörung. Die Stadt wird einfach dem Erdboden gleichgemacht.

Wiktorija Hamaza ist eigentlich Journalistin. Seit Kriegsbeginn engagiert sie sich als freiwillige Helferin im Frontgebiet.
(Foto: Instagram.com / vk_hamyza)
Seit April fahren wir immer wieder nach Bachmut. Damals retteten wir noch Menschen aus anderen Städten und brachten sie dorthin. Seitdem sich der Feind der Stadt zu nähern begann und harte Kämpfe ausbrachen, kommen wir viel öfter. Wir liefern alles Mögliche an unsere Soldaten: Medikamente und Lebensmittel, Munition, Wärmebildkameras, Schutzwesten, Uniformen. Mithilfe von Spenden kaufen wir auch Drohnen, Reanimationsfahrzeuge, Pickups - jede Woche kommen solche umfangreichen Anfragen von der Front.
Wenn man in Bachmut ist, steht man ständig unter Beschuss. Es gibt wohl kein Gebäude, das nicht beschädigt ist. Ich beobachte, wie zum Beispiel von einem Haus, in dessen Keller wir einmal übernachtet haben, immer weniger übrig ist: Mal fehlt eine Wand, dann ein ganzes Stockwerk… Einmal traf eine Rakete das Gebäude, als wir dort im Keller saßen. Die Explosion war so stark, dass zwei Stockwerke komplett einstürzten, oben entstand ein riesiges Loch.
Getötet zu werden, ist nicht das Schlimmste
Wenn eine Rakete einschlägt, passiert alles so schnell, dass man keine Zeit hat, sich zu erschrecken. Es gibt einen ohrenbetäubenden Lärm und dann ist da nur noch eine Menge Staub. Sofort kommen die Rufe: "Alle am Leben? Alles in Ordnung?" Letztes Mal war nicht alles in Ordnung: Einem aus unserem Team riss ein Splitter ein Teil des Unterschenkels ab, ein anderer verlor ein Auge.
Getötet zu werden, ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, wenn du unter Trümmern verschüttet bist und niemand dich da rausholen kann. Eine Familie wurde verschüttet und die Einsatzkräfte konnten sie nicht retten, weil sie beschossen wurden. Der Vater, die Mutter, der Sohn und die Tochter lagen unter den Trümmern und starben langsam. Sie wurden bis heute nicht geborgen.
Es kommt vor, dass auf dem Boden ein Kopf in einem Helm liegt
In Bachmut riecht es nach Leichen. Der Geruch ist so schrecklich, dass man ihn nicht mit etwas anderem verwechseln kann. Am Stadtrand, wo früher Müllhalden waren, liegen Berge von Leichen. Alles ist mit Leichen zugedeckt. Jetzt ist Winter und alles ist gefroren. Aber sobald es wärmer wird, zersetzen sich die Körper und die Überreste gelangen in den Boden. In der Umgebung von Bachmut ist das Brunnenwasser deswegen jetzt schon nicht zum Trinken geeignet.
Unsere Soldaten schildern ein grausiges Bild, das sie während der Kämpfe beobachten: "Kaum haben wir die einen umgelegt, da kommen schon die nächsten." Die Russen greifen mehrmals am Tag an. Unsere Jungs schießen auf sie – sie fallen um. Und dann kommen schon die nächsten, sie gehen einfach über die Leichen - so entstehen regelrechte "Leichenstreifen".
Die Russen bergen ihre Toten und Verwundete nicht. Selbst wenn sie eine Position bereits erobert haben, fahren sie die Leichen nicht weg. Sie werfen sie auf einen Haufen oder lassen sie einfach liegen. Darunter sind auch zerrissene Körper. Denn wenn schweres Gerät im Einsatz war, bleiben von den Soldaten nur abgetrennte Beine, Arme, Köpfe übrig. Manchmal liegt auf dem Erdboden einfach ein Kopf in einem Helm.
Kinderbriefe in Klarsichtfolie
Vor ein paar Monaten hat sich unsere Armee mit dem Feind darauf geeinigt, Leichen unserer Soldaten abzuholen, die im besetzten Gebiet lagen. Russland stimmte einem Korridor zu, das war auf der Führungsebene vereinbart. Zehn unserer Kämpfer machten sich auf den Weg, um die Toten einzusammeln. Die Russen haben sie einfach erschossen.
Wenn man verletzten oder toten Soldaten die Uniform abnimmt, findet man unter den Schutzwesten oft einen Brief ihrer Kinder in einer Klarsichtfolie. Das ist sehr schmerzhaft, denn man weiß, dass irgendwo da draußen eine Familie ist, deren Welt zusammenbricht. Wenn man von Hand geflickte Uniform sieht, versteht man, dass sie vielleicht von der Mutter, der Frau oder der Schwester geflickt wurde. Es wurde mit so viel Fürsorge gemacht – und der Mensch ist nicht mehr da. Und die Angehörigen wissen das noch nicht einmal.
Seit dem Sommer haben russische Sabotagegruppen damit begonnen, sich Uniformen der ukrainischen Streitkräfte anzuziehen. Manchmal halten sie am Straßenrand an, geben vor, verwundet zu sein, töten dann unsere Soldaten, die zu Hilfe kommen, und stehlen ihre Autos. Vor kurzem gab es einen Vorfall in Kurdjumiwka (eine Gemeinde 16 Kilometer von Bachmut entfernt - Anm. d. Red.): Die Russen trugen ukrainische Uniformen und wurden an einem Kontrollpunkt durchgelassen. Sie fuhren nachts in eine der Stellungen und erschossen alle, die dort waren.
Bis zu 500 Verletzte pro Tag
Durch die ständigen Angriffe erleiden die Russen vielleicht dreimal so hohe Verluste wie wir – sie setzen auf die Quantität. Aber auch bei uns steigen die Opferzahlen. Anfang Februar begann der Feind, vorzurücken, und natürlich gibt es seitdem viel mehr Verluste. Unsere Ärzte in umliegenden Orten können die Intensität der Kämpfe anhand der Zahl der eintreffenden Verwundeten einschätzen: mal sind es 70 Menschen – mal bis zu 500 pro Tag.
Die Ärzte dort sind Superhelden, sie leisten Unglaubliches! Wenn es keinen Strom gibt, operieren sie im Licht der Taschenlampen. Sie haben keine Zeit zu essen, zu trinken oder zur Toilette zu gehen - sie wechseln nur die Handschuhe, sterilisieren ihre Hände - und weiter geht's. Es kommt vor, dass sie bis zu 20 Stunden ohne Pause am OP-Tisch stehen.
Einige Einheimische warten auf die "russische Welt"
Die Einheimischen sind in einer schrecklichen Situation. Viele sterben an Schrapnellwunden. Vor wenigen Tagen wurden zum Beispiel in einem Haus ein 77-jähriger Großvater und ein 12-jähriger Junge durch Splitter getötet. In der Stadt sind noch ein paar Tausend Zivilisten, darunter 200 Kinder (Vor dem Krieg lebten in Bachmut rund 73.000 Menschen – Anm. d. Red.). Die meisten sitzen die ganze Zeit in den Kellern und haben Angst rauszugehen. Wegfahren wollen sie aber nicht. Vergangene Woche haben wir zum Beispiel ein Mädchen evakuiert, das bei seinen Großeltern lebte. Das Kind nahmen wir mit, aber die Großeltern weigern sich weiterhin zu gehen.
Warum bleiben die Menschen im zerstörten Bachmut? Viele haben keinen Ort, wohin sie gehen könnten. Die Älteren sagen: "Was sollen wir woanders tun? Wir haben kein Geld, gar nichts – wo sollen wir nur hinfahren? Wir leben hier seit unserer Kindheit, unser ganzes Leben ist hier." Es gibt auch Leute, die glauben, es sei bald zu Ende, Bachmut werde verteidigt. Und natürlich gibt es welche, die auf die "russische Welt" warten.
Hunde lecken Blut, weil es sonst nichts zu fressen gibt
Seit Ende des Sommers gibt es kein Internet und kein Mobilfunk-Empfang mehr. Auch Strom und Wasser gibt es nicht. Selbst die Brunnen, aus denen die Zivilbevölkerung früher Wasser holte, sind jetzt durch die Angriffe zerstört. Die Menschen sammeln Regenwasser und Schnee. Es gibt aber nichts zum Filtern, also trinken sie es so.
Vor ein paar Monaten waren in Bachmut noch überall zurückgelassene Tiere. Heute gibt es weniger davon: Viele sind verhungert oder durch Granatsplitter getötet worden, einige wurden von Freiwilligen abgeholt. Aber es sind immer noch viele. Hunde laufen in der Nähe der Feldlazarette herum und kämpfen untereinander um die blutverschmierten Krankentragen und Uniformen. Sie lecken dieses Blut, weil es sonst nichts zu fressen gibt.
Einmal wollte ich einen Hund füttern. Es war ein riesiger Schäferhund, der so abgemagert war, dass ihm die Rippen hervorstanden. Ich konnte sehen, wie hungrig er war, so gierig griff er nach dem Futter! Doch dann spuckte er alles aus, war ich ihm gab. Ich fand das seltsam. Und dann sah ich, dass unter seinem Kiefer ein Loch war. Alles, was er fraß, erreichte nicht seine Speiseröhre, sondern fiel heraus.
Man kann Bachmut nicht einfach aufgeben
All das Grauen, der Tod und die Zerstörung sind schwer zu ertragen. Wobei die Emotionen sich ja ausschalten, wenn man dort ist. Erst wenn ich zu Hause bin, erinnere ich mich manchmal an irgendeine Kleinigkeit und alles kommt wieder hoch. Wir riskieren andauernd unser Leben und denken besser nicht darüber nach. Am Anfang war es beängstigend, aber inzwischen reagieren wir nicht mal auf Explosionen.
Trotz aller Verluste und feindlicher Durchbrüche der vergangenen Tage bin ich weiterhin zuversichtlich, dass Bachmut verteidigt wird. Es ist nur schade, dass der Preis dafür so hoch ist. Und wenn man bedenkt, wie viele Menschenleben und Kräfte bereits geopfert wurden, dann kann man die Stadt jetzt nicht einfach aufgeben.
Übersetzt von Uladzimir Zhyhachou
Quelle: ntv.de