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An fast allen Flanken angreifbar Kamala Harris ist leider die falsche Wahl

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Wird gegen Trump ums Weiße Haus kämpfen: Vizepräsidentin Kamala Harris.

Wird gegen Trump ums Weiße Haus kämpfen: Vizepräsidentin Kamala Harris.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Für kurze Zeit blitzte bei den US-Demokraten Kampfgeist durch: Warum nicht einen Mini-Vorwahlkampf mit mehreren Kandidaten? Ach was, Kamala Harris soll das machen. Lieber die sichere Wahl, sagt sich die Partei. Leider ist es nicht die beste.

Uff, und alle in der Partei können sich einen Moment zurücklehnen: Kamala Harris hat genug Delegiertenstimmen der Demokraten zusammen, die ihre Kandidatur für die US-Präsidentschaft unterstützen wollen. Damit wird sie mit größter Sicherheit nominiert und auf dem Parteitag im August in Chicago groß gefeiert. Eine einfache Mehrheit der Stimmen benötigt die Vizepräsidentin in der Onlineabstimmung zuvor, und die steht wohl inzwischen hinter ihr. Kuh vom Eis, keine Konkurrenz, kein hektischer Mini-Vorwahlkampf mit weiteren Kandidaten, kein Streit über Inhalte. Sondern: Alles friedlich und vereint im Wahlkampf für die zukünftige Kandidatin. Yes, we Kam!

Das klingt alles gut und angesichts der gerade doch recht schweren See aus der Sicht von Demokraten vor allem irgendwie machbar. Nur: Viele namhafte US-Experten, Journalistinnen, Analysten sagen, bei der Entscheidung für oder gegen Donald Trump am 5. November entschieden die USA letztlich über den Fortbestand ihrer Demokratie. Und wer das "Project 2025" der Trump-nahen Heritage Foundation mal querliest, der kommt zu einer ganz ähnlichen Einschätzung. Wenn das aber stimmt, ist Machbarkeit der falsche Parameter. Dann müsste sich bei den Demokraten jede Initiative, jede Strategie, jedes persönliche Interesse in diesem Jahr einem einzigen Ziel unterordnen: Trumps Rückkehr ins Weiße Haus zu verhindern.

Die Frontalangriffe kommen noch

Das ist eine geradlinige Zielsetzung, doch scheinen die Demokraten inzwischen vom besten Weg dorthin abgekommen. Denn die aus Sicht der Partei so angenehm schnelle und sanfte Übergabe der Kandidatur von Präsident Joe Biden an Vizepräsidentin Kamala Harris fühlt sich nur so lange für die Demokraten komfortabel und gut an, wie das Trump-Lager noch nicht zum voll orchestrierten Schlag ausgeholt hat. Die Frontalangriffe kommen erst noch.

Für Trumps Propaganda-Strategen, die zielsicher die Schwächen des Gegners attackieren, aber auch vor keiner Lüge, keiner Geschmacklosigkeit Halt machen, bietet Kamala Harris zu viel Angriffsfläche.

Das hätten die Demokraten verhindern können - durch einen neuen Kandidaten, ein frisches Gesicht. Wenigstens durch einen echten Vorwahlkampf, in dem sich Harris hätte behaupten müssen, aber auch können im Rennen um die demokratische Kandidatur. Dass dafür die Chuzpe fehlte, wird der Partei womöglich schmerzhaft auf die Füße fallen.

Harris hat einen klaren Vorteil gegenüber jemand Neuem: Sie ist bereits bekannt, überall in den USA. Das ist nicht zu unterschätzen. Einen Josh Shapiro, der in Pennsylvania erfolgreich als Gouverneur regiert, den Wählern im 30 Autostunden entfernten Salt Lake City zu verkaufen, wäre mindestens aufwändig und damit auch teuer. Dank ihrer Bekanntheit konnte Harris fast aus dem Stand mehr als 80 Millionen US-Dollar an Wahlkampfspenden generieren, das 90-Millionen-Budget der bisherigen Biden/Harris-Kampagne kommt noch dazu. In den Punkten Bekanntheit und Finanzen gilt: Vorteil Harris.

Das war es dann aber auch schon mit den Vorteilen. Ein markantes Problem, das die Trump-Truppe sofort begonnen hat zu nutzen: Harris war Teil der Biden-Administration. Alle Probleme, die man Biden aus der Regierungszeit angelastet hat, müssen die Kampagnenführer nur ein Stück weiter auf Harris schieben. Noch dazu hatte ihr Biden das schwierige Problem der illegalen Einwanderung an der Südgrenze übergeholfen, und da hat Harris in dreieinhalb Jahren tatsächlich nichts erreicht. Sie ist also für Bidens Fehler mitverantwortlich und zusätzlich wegen eigener Misserfolge angreifbar. Trump wird es zu nutzen wissen.

Wo ist die Show?

Der sanfte Übergang von Biden auf Kamala Harris ist bequem für die Beteiligten, aber fürs Publikum fehlt die Show. Keine Frage, Harris dominierte die Schlagzeilen gestern und heute. Nun ist die Entscheidung gefallen, aber es sind noch mehr als drei Monate bis zur Wahl. Womit soll sie die restlichen 105 Tage dominieren? Ein Vorwahlkampf um die Kandidatur - "Wer setzt sich durch? Die Vizepräsidentin oder einer der erfolgreichen Gouverneure als Gegenkandidaten?" - das hätte bis zum Nominierungsparteitag im August in Chicago noch einiges an Meldungen generiert. Die hätten das Bild einer mutigen, vitalen Partei zeichnen können, in der die Unterstützung der Mitglieder und damit die Macht errungen werden muss.

Real haben sich nun ein paar Leute in Washington ans Telefon gehängt und so viele Delegierte des Parteitags fernmündlich bearbeitet, bis sie genügend Unterstützer für Harris beisammen hatten. Das ist nicht nur öde, sondern strahlt auch gar nichts von lebendiger Demokratie aus. Eher von Erbfolge und Parteimitgliedern, die auf Linie gebracht werden, böse ausgedrückt. Die Trump-Strategen haben diese offene Flanke bereits im Visier. Ihre Behauptung: Man habe die Biden-Unterstützer um ihre Stimmen gebracht. Auch wenn das so nicht korrekt ist, kann es trotzdem verfangen. Es fehlt der starke Gegenbeweis.

Die Wahl am 5. November wird aller Voraussicht nach in den Swing States entschieden: Michigan, Pennsylvania, Wisconsin, Georgia, Arizona - Bundesstaaten, deren Einwohner schnell den Verdacht hegen, nicht im Fokus der Politik in Washington zu stehen. Womöglich auch zu Recht. Eine Politikerin aus der Washingtoner Blase wird es schwer haben, diese Leute zu überzeugen. Ihr Heimatstaat Kalifornien hilft ihr da überhaupt nicht weiter. Eine wirtschaftlich erfolgreiche Hightech-Hochburg voller linker Umweltschützer, die eigentlich nur surfen wollen - solch ein Bild haben viele in Staaten wie Wisconsin oder Michigan von Kalifornien. Aber eben auf deren Stimmen wird es am 5. November mehr ankommen als auf viele andere.

Soweit zu den tatsächlichen, inhaltlichen offenen Flanken. Und dann gibt es noch das weite Feld der Polemik, der Lügen, der rassistischen Anspielungen und des Sexismus, auf dem sich die Trump-Strategen ungeniert bewegen und bedienen werden. Das wirklich Schlimme ist: Sie werden damit punkten. So wie sie 2016 gegen Hillary Clinton gepunktet haben.

Warum nicht Michelle? Warum nicht Oprah?

So sehr es ärgert, vielleicht sogar schmerzt, in Erwartung solcher Unsäglichkeiten die Defensive zu wählen, keine Angriffsfläche zu bieten, einen weißen, gemäßigten Mann als Trumps Gegner aufzustellen: Es wäre in diesem Fall die richtige Wahl gewesen.

Oder die Demokraten hätten alles daran setzen müssen, einen richtigen Pflock einzuhauen: mit Michelle Obama, mit Oprah Winfrey, mit einer Frau, die für Trump qua Prominenz fast unangreifbar wird. Eine, deren Beliebtheit wie eine Teflonbeschichtung wirkt, an der sexistisches Gesabber aller Art sauber abperlt. Solche Ideen gab es. Doch keine konnte Fahrt aufnehmen. Im November scheint die Demokratie in Gefahr - aber die Demokraten sind nicht bereit, etwas zu wagen.

Kamala Harris hat viele Eigenschaften, die man braucht, um im Weißen Haus zu regieren. Wie wünschenswert wäre es, die USA würden in den kommenden vier Jahren von einer Frau mit jamaikanischen und indischen Wurzeln regiert, die intelligent ist und wortgewandt, die eine beachtliche juristische Karriere hingelegt hat, mit 59 Jahren jung daherkommt und sympathisch. Allein, das ist nicht das Ziel in diesem Jahr. Das Ziel ist, zu verhindern, dass die USA demnächst von einem unberechenbaren, strafrechtlich verfolgten, frauenverachtenden, schlecht beratenen 78-jährigen Autokratenfreund regiert werden.

Die Frage war darum nie: Wäre Kamala Harris eine gute Präsidentin? Sondern immer: Wäre sie die sicherste Wahl, um Trump zu verhindern? Nur das zählt 2024. Weil man diese Frage mit Nein beantworten muss, ist Harris vielleicht die richtige Frau am richtigen Ort, aber zur falschen Zeit.

Quelle: ntv.de

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