Richtungswahl in der Türkei Erdoğan ist seinem großen Ziel näher
02.11.2015, 10:25 Uhr
Überraschend deutlich erlangt die AKP die absolute Mehrheit im türkischen Parlament. Damit kann Staatspräsident Erdoğan mit dem Umbau des Systems beginnen. Die weitere Spaltung der Türkei wird noch viel Unruhe bringen.
Die Türkei hat gewählt. Mit der absoluten Mehrheit für die AKP ist das Ergebnis überraschend deutlich ausgefallen. Die knapp 50 Prozent liegen acht Prozentpunkte über den Prognosen, die noch am Freitag ein ähnliches Wahlergebnis wie bei den letzten Wahlen Anfang Juni vorausgesagt hatten. Belege für Manipulationen gibt es im Moment indes nicht.
Ein Wahlergebnis wie im Juni hätte mehr oder weniger ein politisches Patt bedeutet. Zumindest hätte Recep Tayyip Erdoğans AKP dann einen Koalitionspartner benötigt, was dieser um jeden Preis verhindern wollte.
Die riskante und umstrittene Kampagne, mit der Erdoğan die Partei in den letzten Wochen und Monaten als einzigen Garanten für Stabilität, Sicherheit und Ordnung positionierte, ist beim Wähler offenbar doch angekommen.
Zugleich hatte Erdoğan immer wieder versucht, die prokurdische HDP auf eine Stufe mit der PKK zu stellen und sie in die terroristische Ecke geschoben. Das wirkte zwar billig und durchschaubar, hatte aber trotzdem Wirkung. Zwar hat die HDP den Wiedereinzug ins Parlament geschafft, aber nur knapp.
Was bedeutet das Wahlergebnis nun für die Türkei?
Zuallererst wird Erdoğan die absolute Mehrheit der AKP als Mandat begreifen, ein Präsidialregime einzuführen. Dies ist sein eigentliches politisches Ziel. Ein Selbstlauf wird das nicht, denn dafür muss die Verfassung geändert werden. Mit einer AKP ohne absolute Mehrheit wäre das so gut wie unmöglich. Nun kann die Regierungspartei ein Verfassungsreferendum in diese Richtung anstoßen. Premier Davutoğlu hat dazu in einer ersten Rede nach der Wahl bereits aufgerufen.
Die Opposition in der Türkei wird es künftig noch schwerer haben, sich Gehör zu verschaffen. Die Art und Weise, wie die regierungskritischen Medien in den Tagen vor der Wahl drangsaliert wurden, ist nur ein Vorgeschmack.
Auch für das zweite große innenpolitische Thema der Türkei, den Konflikt mit den Kurden, bedeutet dieser Wahlausgang nichts gutes. Juli hatte der Präsident den Friedensprozess mit den Kurden aufgekündigt und greift sie wieder militärisch an - im Südosten der Türkei, im Irak und auch in Nordsyrien, wo er eine Pufferzone errichten will. Seitdem geht ein tiefer Riss durch das Land.
Die Gefahr ist groß, das der angezettelte Zweifrontenkrieg gegen die Terrormiliz des IS einerseits und gegen die PKK andererseits schnell außer Kontrolle gerät. Noch immer sieht die türkische Regierung in der PKK die größere Gefahr für die Stabilität der Türkei und geht weit entschlossener gegen militante Kurden vor als gegen den IS. Dass die Kurden jedoch in Nord-Syrien erfolgreicher und entschlossener als alle anderen gegen die Terrormiliz vorgehen, wird in Ankara entweder übersehen oder ist womöglich gar nicht genehm.
Die Richtungswahl ist getroffen
Die Reaktion auf die Terror-Anschläge in Suruç Ende Juli und Ankara Anfang Oktober hat die innere Spaltung des Landes nachhaltig verdeutlicht. Die Anschläge sind bis heute nicht aufgeklärt, obwohl die Regierung den IS dafür verantwortlich macht. Die Kurden glauben, dass die eigentlichen Drahtzieher im türkischen Geheimdienst sitzen könnten.
Die Wahl wird das Klima des gegenseitigen Misstrauens nicht verbessern. Die Konsequenzen für die sicherheitspolitisch und geostrategisch hochsensible Region im Länderdreieck zwischen der Südosttürkei, dem Nordirak und Nordsyrien sind nicht absehbar.
Die zur Richtungswahl hochstilisierte Entscheidung zwischen dem autokratischen System Erdoğan und einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft hat Erdoğan gewonnen. Zumindest für den Moment. Aber so klar das Ergebnis auch sein mag, es kommen schwierige Zeiten auf die Türkei zu.
Quelle: ntv.de