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Grüne geben im Asyl-Streit nach Harte Landung auf dem Hosenboden der Tatsachen

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Außenministerin Baerbock verfolgt den Länderrat neben ihren Parteivorsitzenden Nouripour und Lang.

Außenministerin Baerbock verfolgt den Länderrat neben ihren Parteivorsitzenden Nouripour und Lang.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Grünen stehen am Wochenende vor einer veritablen Zerreißprobe. Deutschlands Zustimmung zu einer restriktiveren Asylpolitik treibt viele Parteimitglieder auf die Palme. Dass ein Eklat abgewendet wird, liegt vor allem daran, dass die Grünen ein Einsehen haben - in ihre geschwundene Macht.

Niemand sollte behaupten, dass sich die Grünen mal wieder in einem elitären Ideologiestreit verzetteln würden. Bei genauer Betrachtung gibt es zahlreiche Gründe zur Kritik am EU-Rats-Kompromiss zur künftigen EU-Asylpolitik, der ohne die Zustimmung der deutschen Bundesregierung so nicht zustande gekommen wäre. Er senkt kurzfristig nicht den Zuwanderungsdruck, er führt zu einem menschenrechtlich fragwürdigen Umgang mit Kindern und Jugendlichen, er schleift das Asylrecht und zugleich werden die weniger aufnahmebereiten EU-Länder nicht in die Pflicht genommen, ihren solidarischen Beitrag bei der Flüchtlingsunterbringung zu leisten.

So gesehen ist der grüne Furor über die Zustimmung der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock zu diesem Deal weniger überraschend als das Schweigen in weiten Teilen der SPD, die ihrem Selbstverständnis nach doch auch menschenrechtsbewegt ist. Deren Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte schließlich auf EU-Ebene für Deutschland verhandelt.

Doch nun trägt auch die grüne Partei vorerst mit, was Baerbock selbst als "schmerzhaft" bezeichnet. "Auch mich hat das zerrissen", sagte die Außenministerin auf dem kleinen Parteitag in Bad Vilbel über den Asyl-Kompromiss. Ein gemeinsam verabschiedetes Positionspapier zur Migrationspolitik der Partei ist deshalb voller Zugeständnisse an die zuletzt lautstarken Kritiker. Baerbock muss nun engagiert für Verbesserungen kämpfen, will sie nicht das Vertrauen der Basis verlieren.

"Festung Europa" wird mehrheitsfähig

Mehr noch als diese Konzessionen der Parteispitze an die Kritiker dürfte aber etwas anderes den befürchteten Eklat verhindert haben: die Einsicht in die geschwundene Wirkmächtigkeit der Grünen. Dies gilt zuerst einmal für Deutschland, wo die Partei in Umfragen näher an der Einstelligkeit ist als an der AfD mit ihren erschreckenden 19 Prozent. Die Grünen stemmen sich gegen das Schrumpfen, nachdem sie im Herbst 2021 noch so enthusiastisch in die Regierung gestartet waren. Doch eineinhalb Jahre später sind weder Klimaschutz noch die Rechte von Geflüchteten Mobilisierungsthemen. Im Gegenteil, die Stimmung dreht sich spürbar.

Und das eben nicht nur in Deutschland. Ob es den Kritikern des Asylkompromisses passt oder nicht: Die Bundesregierung war eine der wenigen EU-Regierungen, die sich gegen eine restriktivere Asylpolitik gestemmt hat. In Schweden und Finnland reden seit neuestem die Rechtspopulisten mit, in Spanien könnten bald Konservative zusammen mit der rechtspopulistischen Vox-Partei anstelle der Sozialdemokraten regieren. Das Modell Ungarn oder Polen macht Schule in Europa, nicht Deutschland.

Man mag es unmenschlich und unrealistisch finden, aber das Versprechen von der "Festung Europa" zieht derzeit Wähler. Die Bundesregierung muss mit einer wachsenden Zahl nationalistischer EU-Regierungen kooperieren, um die Europäische Union inmitten der Auseinandersetzung mit Russland zumindest zusammenzuhalten.

Es braucht eine Strategie

Es war die Einsicht in diese unumstößlichen Tatsachen, die den großen Aufstand von Bad Vilbel verhindert hat. Das und der eindringliche Appell der Parteiführung, dass ein offener Streit, gar eine Abrechnung mit den eigenen Ministerinnen nur den Gegnern genützt, in der Sache aber den Grünen nicht geholfen hätte. Was bleibt von diesem Tag, ist der klare Auftrag der Partei an ihre Spitzenvertreter einen Umgang mit der Situation zu finden.

Die Partei braucht eine Strategie, wie sie ihre Vorstellungen von einer geordneten, aber humanen Flüchtlingspolitik wieder mehrheitsfähig machen könnte - angefangen in Deutschland. Das verspricht ein langer und steiniger Weg zu werden. Aber immerhin haben die Grünen die Orientierung zurückgefunden, wo sie derzeit (nicht nur) in der Migrationspolitik stehen: wieder ganz am Anfang.

Quelle: ntv.de

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