Streit um "Aquarius"-Flüchtlinge Macron sollte von der Kanzel steigen
15.06.2018, 11:33 Uhr
Emmanuel Macron verfolgt in seiner Asylpolitik einen immer härteren Kurs.
(Foto: REUTERS)
Geht es um das Schicksal der 629 Flüchtlinge an Bord der "Aquarius", sieht sich Frankreichs Präsident Macron als moralische Instanz. Offen wirft er Italien Zynismus vor, weil das Land seine Häfen dicht macht. Doch Macron gibt selbst keine gute Figur ab.
"Die deutsche Kanzlerin hat unsere kollektive Würde gerettet", sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor anderthalb Jahren. Er lobte damals Angela Merkels Entschluss, die deutsche Grenze trotz des Ansturms Hunderttausender Flüchtlinge nicht zu schließen. Heute beklagt der Chef im Elysée zwar laut das Schicksal der 629 Flüchtlinge an Bord der irrfahrenden "Aquarius". Geht es aber um konkrete Hilfe, hält sich Macron zurück. Das Helfen überlässt er anderen - im aktuellen Fall Spanien, das den Hafen in Valencia für das Flüchtlingsschiff öffnet. In dieser Notsituation wirkt Frankreichs neuer starker Mann plötzlich ziemlich feige. Schade.
Den Entschluss Italiens, die eigenen Häfen für das Rettungsboot der Organisation SOS Méditerranée zu schließen, bezeichnete der Präsident am Dienstag als "zynisch und verantwortungslos". Nach einem Telefonat mit Italiens Regierungschef Giuseppe Conte hat er diese Aussage zwar relativiert. Doch Macron hat recht. Das Vorgehen Italiens ist in der Tat verantwortungslos. Und die "Aquarius" droht, kein Einzelfall zu bleiben. Hilfsorganisationen fürchten, dass Italien und Malta schon bald dauerhaft alle Häfen für Flüchtlinge dicht machen könnten. So würden sie Fakten schaffen.
Italiens Vorstoß kommt allerdings auch nicht aus heiterem Himmel. Mehrmals haben die Italiener in der Flüchtlingsfrage Alarm geschlagen, von Überforderung gesprochen und radikale Maßnahmen angedroht. Europa hat nicht reagiert - auch Frankreich nicht. Nun ist in Rom eine Regierung im Amt, die keinerlei Rücksicht mehr nimmt. Nach dem Motto: Italia first! Darüber kann Macron empört sein. Aber überrascht sein darf er nicht.
Korsika führt den Präsidenten vor
Natürlich, der französische Präsident ist erst seit anderthalb Jahren im Amt. Und er hat schmerzhaft feststellen müssen, wie schwerfällig der Tanker Europa ist. Doch wie oft hat er - ob vor dem EU-Parlament in Brüssel oder an der Sorbonne in Paris - mit reichlich Enthusiasmus die europäische Idee beschworen. Wie oft sprach er von Einheit, von Solidarität, von Zusammenhalt. Sogar eine europäische Asylbehörde schlug er vor. Im Falle der "Aquarius" bleibt er nun lange untätig. Zu lange.
Ausgerechnet die Regionalregierung in Korsika muss Macron an die eigenen Werte erinnern - und fährt ihm mit einem eigenmächtigen Hilfsangebot in die Parade. Man sei bereit, alle 629 Flüchtlinge aufzunehmen, sagte der Regionalpräsident am Dienstag. Das sei selbstverständlich in einem solidarischen Europa. Für den Präsidenten war das eine ziemlich harte Rechte. Macron musste reagieren. Am späten Donnerstagabend heißt es plötzlich aus dem Élysée, Frankreich wolle einige Flüchtlinge von der "Aquarius" aufnehmen - allerdings nur solche, "die den Kriterien des Asylrechts entsprechen".
Dieser Humanismus mit angezogener Handbremse passt zu einem Präsidenten, der seit seinem Amtsantritt einen bemerkenswerten Wandel vollzogen hat. Ja, auch Frankreich hat vergangenes Jahr rund 100.000 Asylbewerber aufgenommen. Doch bei den Asylverfahren setzt Macron auf Härte. Seit Anfang des Jahres gilt in Frankreich ein neues Asyl- und Einwanderungsgesetz. Der Präsident hat den Franzosen schnelle Abschiebungen und ein "härteres Vorgehen" gegen illegale Einwanderung versprochen. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, er habe seine Meinung über Merkels Flüchtlingspolitik teilweise korrigiert. Nicht um die "kollektive Würde" gehe es ihm mehr, sondern um den Schutz vor "Migrationswellen, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gesehen haben".
Wie schwer wiegt da noch das Schicksal von 629 Männern, Frauen und Kindern auf dem Mittelmeer? Im Fall von Macron ist das auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Als starke moralische Stimme wird er in Europa nur dann ernst genommen werden, wenn er auch in der Flüchtlingsfrage Verantwortung übernimmt - und nicht nur die Moralkeule schwingt. Italien hat ein klares Signal gesendet: Wenn Solidarität in Europa nur auf dem Papier existiert, bleibt nichts weiter als der Alleingang. Beim Treffen mit Conte muss Macron nun zeigen, dass es auch anders geht.
Quelle: ntv.de