Held und Hassfigur Die gefährliche Eskalation des "Falls Djokovic"
14.01.2022, 06:25 UhrNovak Djokovic möchte in Australien gerne Tennisspielen, darf dies aber womöglich nicht tun. Der Streit um das Visum des Serben und dessen Start bei den Australian Open weitet sich zu einem enthemmten Irrsinn aus, der den Kern der Auseinandersetzung völlig vernachlässigt.
Womöglich gewinnt Novak Djokovic Ende Januar die Australian Open. Es wäre ein historischer Erfolg. Nicht aber ein historischer Triumph. Zu viel ist in den vergangenen Tagen passiert, als dass irgendwer sich am Ende dieses Wahnsinns als Gewinner fühlen darf. Und dennoch wird es so kommen, dass die Entscheidung des australischen Einwanderungsministers Alex Hawke gnadenlos ausgeschlachtet, instrumentalisiert und inszeniert wird. Vor allem von der Seite des serbischen Tennisstars. Deren Heroisierung des Spielers bis hin zur Jesus-Nähe war in den vergangenen Tagen ebenso verstörend eskaliert, wie der Fall selbst, bei dem sich zwischenzeitlich alles völlig absurd vermischt hatte: Impfweigerung, Falschangaben, Verschwörungstheorien, Täuschungsvorwürfe und Behördenfehler.
Inzwischen hat sich die Großlage tatsächlich wieder verzwergt. Auf eben Hawke. Er alleine wird nun entscheiden, ob Djokovic tatsächlich antreten darf oder ob er das Land sofort verlassen muss. Der Grund wäre dann die erneute Annullierung des Visums von Djokovic. Das wäre die juristische Ebene. Aber um die geht es vielen Menschen nicht mehr. Der Fall des Weltranglistenersten hat längst eine andere, eine nicht mehr faktische Ebene erreicht. Der Fall Djokovic wird in der Gesellschaft über die Moral entschieden. Und im Sog der Pandemie wird die Verhandlung nicht mehr fair geführt, sondern fast nur noch aggressiv. Wichtig sind das Gebrüll und die Inszenierung.
So existieren eigentlich nur noch zwei Kategorien: Für seine Anhänger ist Djokovic der (noch größere) Held, der seinen Widerstand gegen die Impfung nicht aufgibt, der "Führer" einer freien Welt. Für seine Gegner ist er eine Hassfigur, die egoistisch denkt und ignorant handelt. Ignorant vor allem gegenüber den Menschen in Australien, die während der Pandemie extreme Härten und Längen des Lockdowns aushalten mussten. Das gipfelte zwischendurch sogar in Einreiseverboten für eigene Staatsbürger. Djokovic kann für all diese Härten natürlich nichts. Befreit von moralischer Schuld ist er damit allerdings nicht.
Zu viele Ungereimtheiten und Zweifel
Denn Djokovics Kampf um Visum und Teilnahme an den Australian Open, die er bereits zum zehnten Mal gewinnen könnte, ist gepflastert von Ungereimtheiten und Zweifeln. Da ist eben der umstrittene PCR-Test, der offenbar zuerst negativ und schließlich deutlich später (zehn Tage, so berichten mehrere Medien mit Verweis auf den Zeitstempel in einer serbischen Datenbank) doch positiv war. Da ist dann die Sache mit den öffentlichen Auftritten, trotz der nachgewiesenen Infektion. Rückfragen zu diesem Chaos wurden von der Familie abgeblockt, das Pressegespräch abgebrochen. Souverän ist anders.
Und da ist der Zeitpunkt der Corona-Infektion. Die geschah nach allem, was man weiß, gut eine Woche nachdem der Spieler erfahren hatte, dass er nach Australien reisen darf, wenn er innerhalb der vergangenen sechs Monate genesen sei. Diese Ausnahme werde Menschen gestattet, wenn sie nicht mindestens doppelt gegen geimpft sind. Für den Vakzinskeptiker aus Serbien die perfekte Gelegenheit für seinen historischen Aufschlag, der mit Grand-Slam-Titel 21 enden soll. Allerdings scheint die Sache mit der Infektion nicht völlig unrealistisch, denn am 14. Dezember besuchte er ein Basketballspiel in seiner Heimat, in dessen Nachgang es zahlreiche Infektionen gab.
Zurück zum Tennis: Djokovic wäre nun der erfolgreichste Spieler aller Zeiten, er hätte dann Roger Federer und Rafael Nadal endgültig hinter sich gelassen. Das ist sein Antrieb. Ein legitimer. Aber keiner, der mögliche Tricksereien in irgendeiner Form rechtfertigt.
Noch immer ist nicht klar, wie die Sache ausgeht. Aktuell steht der Spieler als Sieger da. Aber sein Erfolg steht auf sumpfigem Grund. Das Land Australien möchte ihn wohl weiter gerne ausweisen, um sich nicht verdächtig zu machen, die Regeln im Land für die Prominenz zu beugen. Hawke, der sich wegen offenbar neuer Informationen der Anwälte des Tennisstars weiterhin Zeit mit seiner Entscheidung lässt, steht unter massivem Druck. Kaum jemand in Australien, mit Ausnahme der serbischen Community, hätte Verständnis für einen Verbleib des 34-Jährigen im Land. Fakt ist: Je länger sich die Sache noch hinzieht, desto weniger Zeit hätten die Anwälte von Djokovic, gegen eine erneute Ausweisung vor Gericht Berufung einzulegen. Ein womöglich verlockendes Szenario für die Behörden. Egal wie Hawke entscheidet, auch er wird zum Helden und zur Hassfigur ausgerufen. Eine Bewertung nahe der moralischen Mitte gibt es nicht mehr.
Auch Kimmich kennt die Wucht der Spaltung
Einer, der diese gnadenlose Spaltung in der Pandemie erlebt hat, ist Joshua Kimmich vom FC Bayern. Weil er im Herbst bekannt hatte, sich noch nicht impfen zu lassen, weil ihm Daten zu Langzeitfolgen fehlen würden, wurde er vom Lieblingsjungen des deutschen Fußballs in manchen Teilen der Gesellschaft fast zur Persona non grata. Allerdings - und das ist der Unterschied zu Djokovic - gab es bei keine Ungereimtheiten oder aber womöglich den Versuch, sich irgendetwas zu ertricksen. Die Impfbefürworter schimpften heftig, die Querdenker feierten laut. Das ist der Preis, den jene zu zahlen haben, die sich in dieser Pandemie gegen den Piks entscheiden. Ihre Entscheidungsstandhaftigkeit wird von einer Szene ausgeschlachtet, die sich auch aus Corona-Leugnern und Rechtsradikalen rekrutiert. Was dann die zweite Konfliktlinie der Gesellschaft heftig tangiert: einen völlig enthemmten und radikalen Nationalismus.
Der entlarvt sich auch im Fall Djokovic. Ein ganzes Land, so verkündete Präsident Aleksandar Vucic, steht hinter seinem Nationalhelden. Und eine regierungsfreundliche Boulevard-Zeitung sprach gar von einem "Angriff auf das ganze serbische Volk". Dieses Gefühl der politisch motivierten General-Attacke wurde durch die Inszenierung von Djokovics Familie eskaliert. Aus Hass wird Heroisierung.
Der Bundesstaat Victoria, in dem das erste Grand Slam des Jahres stattfindet, meldet derweil extrem hohe Infektionszahlen. An diesem Donnerstag wurden mehr als 37.000 neue Fälle registriert. Dazu kamen 25 weitere Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19, 953 Menschen wurden in Hospitäler aufgenommen. Wegen der rasant steigenden Zahlen hat die Regionalregierung angekündigt, die Zahl der Zuschauer auf 50 Prozent der Kapazität zu begrenzen. Nichts riecht nach Triumph.
Quelle: ntv.de