DFB-Analyse mit Ewald Lienen "Diese Handregel ist erbärmlich und gehört abgeschafft"

Deutschland und Spanien liefern sich im EM-Viertelfinale einen großen Kampf. Entschieden wird das hitzige Spiel durch einen ganz späten Treffer in der 119. Minute. Mikel Merino schockt das DFB-Team, als er Antonio Rüdiger entwischt und zum 2:1 einköpft. Überlagert wird der Sieg der Spanier aber von einem klaren Handspiel. ntv.de-Experte Ewald Lienen hat eine klare Meinung - auch zum Vorwurf, Bundestrainer Julian Nagelsmann habe sich mit seiner Aufstellung, der Hereinnahme von Emre Can und dem Festhalten an Leroy Sané womöglich vercoacht.

ntv.de: Hallo Herr Lienen, die Frage, wie es Ihnen geht, kann ich mir vermutlich sparen?

Ewald Lienen: Ach, es ist einfach erbärmlich!

Oh, Sie sprechen jetzt aber nicht über das Spiel?

Nein, ich spreche über die Handregel. Die ist erbärmlich. Ich bin seit Jahren ein großer Gegner. Und heute haben wir wieder einmal gesehen, warum. Die Regel macht den Fußball kaputt, da wiederhole ich mich. Ich sehe da keine einheitliche Bewertung. Der eine pfeift es, der andere pfeift es nicht. Das Handspiel gegen Dänemark, von dem wir im Achtelfinale profitiert haben, war schon lächerlich. Aber das heutige Handspiel ist auch gemessen an dem, was wir in den vergangenen Jahren und auch bei dieser EM schon als Pfiff gesehen haben, ein glasklares. Und da muss ich Elfmeter pfeifen. Schon alleine aus Gründen der Fairness, gemessen eben daran, was sonst gegeben wird. Ich sehe da auch gar keinen Grund. Vielleicht versucht er ja auch, die Hand nach innen zu ziehen, weil der Ball dahinkommt.

Hätte es in der 106. Minute beim Stand von 1:1 den Elfmeter für Deutschland gegeben, wäre das Spiel womöglich komplett in eine andere Richtung gekippt, oder?

Ja, das wäre sicher spielentscheidend gewesen. Vielleicht sogar entscheidend für den Rest der EM. Deswegen muss diese Regel weg. Sie gehört abgeschafft. Schiedsrichter Patrick Ittrich hat gerade gesagt, dass das der Interpretationsspielraum ist. So etwas darf es bei so einer Regel nicht geben! Jeder mit gesundem Menschenverstand erkennt, ob ein Spieler mit Absicht Hand gespielt hat oder nicht. Dazu muss ich nicht mit zwei ausgestreckten Armen auf der Torlinie stehen. Aber es ist doch wirklich Quatsch, wenn mal Elfmeter gepfiffen wird, wenn ein Spieler sich im Fallen abstützt und mal nicht. Wenn mal gepfiffen wird, wenn die Hände nah am Körper sind und mal nicht. Und da gibt es ja noch ein anderes Problem.

Welches denn?

Du konzentrierst dich als Abwehrspieler gar nicht mehr richtig auf das Verteidigen, wenn du vor allem darum bemüht bist, die Arme auf den Rücken zu nehmen. Und das ist doch auch keine natürliche Haltung. Es gibt keinen Spieler, der beim Laufen und Springen die Arme nicht bewegen kann. Das ist unmöglich.

Abgesehen von der Elfmeterentscheidung, wie fällt Ihr Urteil zum deutschen K.o. aus?

Ach, das ist schon ärgerlich, Herr Nordmann. Für mich war das ein vorweggenommenes Endspiel. Wir sind einfach in einem sehr unglücklichen Turnierbaum unterwegs, da kann aber niemand was für. Aber es ist bitter, dass sich Deutschland, Spanien, Portugal, Frankreich und Belgien selbst eliminieren müssen, damit einer von ihnen im Endspiel womöglich gegen die Niederlande oder England spielt. Ein Viertelfinale auf einem solchen Niveau ist besser als viele Finalspiele, die wir in den vergangenen Jahren gesehen haben. Auch wenn die ja oft nicht die besten waren, was nach einem langen Turnier auch nicht ungewöhnlich ist.

Aber egal. Was ich sagen will: Das war ein absolutes Topspiel von beiden Mannschaften, für mich waren das auch die bisher stärksten im Turnier. Auch wenn die Deutschen nicht immer voll überzeugt haben. Aber gegen Teams, die sich nicht nur hinten reinstellen, sondern mitspielen wollen, agieren wir auf absoluter Augenhöhe. Da fällt es uns leichter als gegen schwächere Mannschaften, wobei ich da niemanden diskreditieren will. Unsere Mannschaft hat bewiesen, dass sie auf allerhöchstem Niveau mithalten kann. Und Spanien ist für mich das Beste in diesem Turnier bisher.

Also ist die deutsche Niederlage in Ordnung?

Nein, in der zweiten Halbzeit und der Verlängerung haben sie sich kein besonderes Anrecht erworben, dieses Spiel zu gewinnen. Die beiden Gegentore fallen durch extreme Deckungsfehler. Vor dem 1:0 lässt David Raum Lamine Yamal zu viel Platz. Das ist auch schwer zu verteidigen. Man neigt dazu, zurückzubleiben. Wenn du ihm aktiv den Ball wegnehmen willst, dann musst du damit rechnen, dass er an dir vorbeizieht. Was dann aber nicht passieren darf, dass jemand aus dem zentralen Mittelfeld in den Sechzehner läuft. Raum sieht nicht glücklich aus, aber alle drei zentralen Mittelfeldspieler haben das nicht gut gemacht.

Was war das Problem?

Da muss ich kurz ausholen. Als sich Pedri nach dem Foul von Toni Kroos so früh verletzt hat, und Dani Olmo kam, habe ich mir gleich gedacht, dass das kein Vorteil für uns ist. Ich kenne Dani schon lange und wusste, dass er uns Probleme bereiten würde. Es ist einfach der wesentlich torgefährlichere Spieler und liefert auch mehr Vorlagen. Und so war es dann auch beim ersten Gegentor, als er aus dem Zentrum angelaufen kommt. Toni Kroos, Robert Andrich und İlkay Gündoğan haben es verpasst, den Mann zu decken, der sich freiläuft. Die letzten 20 Meter musst du hautnah dran sein. Und beim Siegtreffer lässt Antonio Rüdiger Merino aus dem Auge. Aber das laste ich ihm nach einem so langen Spiel nicht an. Der Fehler passiert auch vorher. Olmo darf sich da aufdrehen und nach innen ziehen. Das muss zwar nicht zum Tor führen, weil wir drei Abwehrspieler im Strafraum haben. Aber du darfst Olmo nicht so anlaufen lassen.

Mit dem Handspiel haben wir das strittigste Thema des Spiels schon abgearbeitet. Aber noch etwas hat für große Diskussionen gesorgt: die Aufstellung von Nagelsmann. In unseren Gruppen wurde intensiv diskutiert, ob der Bundestrainer sich verzockt hat?

Nein, das will ich überhaupt nicht sagen. Bei mir liefen die Kommunikationsgeräte auch heiß. Das ist ja auch das Interessante am Fußball, wir wissen alle, was die richtige Aufstellung ist. Aber wir müssen das nicht entscheiden. Für uns ist es dann leicht, über Sieger und Verlierer zu urteilen. Man weiß ja nie, was passiert wäre, wenn der Bundestrainer anders aufgestellt hätte. Emre Can, über den ja am meisten gesprochen wurde, hat in meinen Augen gut mitgespielt. Nur direkt am Anfang, da hat er sich mal komisch hingeschmissen, ohne Einwirkung vom Gegner. Das ist so ein beliebtes Spiel geworden: Ich werde nicht berührt und liege trotzdem direkt auf der Nase. Das war eine Schwalbe, dafür hätte er Gelb sehen müssen. Und wo ich schonmal dabei bin ...

... nur zu!

Mir gefällt bei so einigen Spielern die Grundhaltung nicht. Bei einem Nacho etwa oder einem Dani Carvajal. Und auch bei einem Rodri, auch wenn er derzeit der beste Sechser auf dem Planeten ist. Aber sie setzen sämtliche Mittel ein, um zu gewinnen. Das sieht man sonst oft bei Real Madrid. Die verletzten ja niemanden, machen keine bösen Fouls. Aber wie Carvajal sich am Ende um den Hals von Jamal Musiala wirft, das trübt mein Vergnügen an so einem Spiel. Festhalten, gefakte Fouls, Gelbe Karten, das hat so ein Spiel nicht verdient. Klar, Toni Kroos hat das auch einmal gemacht, aber sonst sehe ich das bei unseren Jungs nicht so. Da rebelliert mein Gerechtigkeitssinn. Ich habe zwar selbst Zeiten erlebt, in denen das noch schlimmer war, aber ich mag das nicht.

Kommen wir noch einmal zurück zur deutschen Mannschaft. Leroy Sané spielte wieder von Anfang an und enttäuschte abermals. Sie hatten Ihn ja auch häufiger gefordert. War seine Aufstellung ein Fehler?

Nein, ich fand richtig, es erneut mit Leroy zu versuchen. Sehen Sie sich Jamal Musiala an, der hat in den vergangenen Wochen auch nicht mehr die Sterne vom Himmel gespielt, heute war er aber in der zweiten Halbzeit und in der Verlängerung mit der beste Mann auf dem Platz. Das hätte bei Leroy auch passieren können. Er ist leider nicht in der Verfassung, in der ich ihn gerne sehen würde. Wenn er richtig gut drauf ist, gewinnt er Bälle und strahlt eine unfassbare Torgefahr aus.

Die Torgefahr kam leider zu spät heute ...

Ja, mit Robert Andrich und Florian Wirtz ging es sofort in eine andere Richtung. Spätestens mit Maxi Mittelstädt und Niclas Füllkrug stand eine ganz andere Mannschaft auf dem Platz. Und dann kam ja auch noch Thomas Müller. Die Mannschaft hat Spanien hinten reingedrückt und sich quasi im Minutentakt Chancen erspielt. Wenn der Ausgleich ein bisschen früher fällt, dann gewinnt Deutschland das Spiel, da bin ich mir sicher.

Also doch ein bisschen verzockt?

Nein, wenn ich viele gute Spieler habe, muss ich mich für den einen oder den anderen entscheiden. So habe ich noch frische Kräfte und der andere Spieler ist immer eine Option für mich. Und so haben die Einwechselungen viel gebracht. Maxi Mittelstädt war richtig gut. Müller hat geholfen, Chancen kreiert und selbst welche vergeben. Auch wenn er nicht mal diese Schnelligkeit hat, gibt er der Mannschaft immer noch viel. Deswegen hat der ganze Plan heute nichts mit verzocken zu tun. Alle, die gekommen sind, haben alles versucht, das Spiel noch umzubiegen. Am Ende hat es ja fast geklappt. Aus meiner Sicht ist daher alles gut. Ich bin stolz auf die Jungs.

Was bedeutet dieses Spiel denn nun für die Bilanz zum DFB-Spiel?

Wir sind mit großen Mannschaften auf Augenhöhe. Mit Spanien, mit Frankreich, mit den Niederlanden. Und es ist ja auch keine Überraschung, dass wir ausgerechnet gegen diese Mannschaft im März die Wende eingeleitet haben und nicht etwa gegen Ungarn oder Schottland. Auch wenn wir nicht mit allen Leistungen zufrieden sein können, hat sich die Mannschaft würdig verabschiedet. Ich bin total zufrieden mit der Mannschaft und der Entwicklung. Mir gefällt es, wie Julian Nagelmann und sein Team das gemacht haben.

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Es ist seine Entscheidung, die muss man respektieren. Ja, er ist erst 34 Jahre alt, aber ein Philipp Lahm hat noch früher aufgehört. Und mit Cristiano Ronaldo sehen wir ja gerade einen Mann, der mit fast 40 Jahren einfach nicht loslassen kann. Kroos hat eine Ewigkeit bei Real gespielt, ich will gar nicht die Anzahl der Spiele, Reisen hochrechnen, in denen er nicht bei seiner Familie war. Er hat seinen Beitrag zum nationalen oder internationalen Fußball geleistet. Und vielleicht bleibt er dem Sport ja erhalten. Er ist ein toller Fußballer, ein toller Mensch, eine tolle Persönlichkeit. Ich wünsche ihm alles Gute!

Mit Ewald Lienen sprach Tobias Nordmann

Quelle: ntv.de

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