Krise, DFB-Zweifel, Zuversicht Diese Heim-Europameisterschaft setzt neue Maßstäbe
14.06.2024, 21:03 UhrDer lange Vorlauf ist vorbei, los geht's: In München startet die Heim-Europameisterschaft. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft eröffnet das Turnier gegen Schottland. Es ist ein Turnier mit vielen Ungewissheiten - aber auch Hoffnung.
Jetzt geht sie endlich los. Die Heim-Europameisterschaft. Das Fußball-Turnier der Superlative in Deutschland. Mehr Spieler, mehr Fans, mehr Fußball im TV und Internet, mehr Polizeikräfte. Die EM setzt neue Maßstäbe und beginnt mit dem Auftaktspiel in München zwischen der deutschen Nationalelf und der schottischen. Aber bedeutet das "Mega-Turnier" auch mehr Tore? Mehr Stimmung? Mehr Strahlkraft für ein vereintes Europa?
So hoffen zumindest die Organisatoren und die DFB-Verantwortlichen. Nichts weniger als ein "Sommermärchen 2.0" soll her. Eine große, friedliche EM-Party. Bundestrainer Julian Nagelsmann forderte am Freitag auf der Abschluss-Pressekonferenz ein Land, das seine Mannschaft "nach vorne peitscht". Bis zum Finale am 14. Juli im Berliner Olympiastadion werden 51 Partien in zehn deutschen Städten stattfinden - und die DFB-Elf will den vierten EM-Titel nach 1972, 1980 und zuletzt 1996 gewinnen.
Die Eröffnungsfeier kommt nüchtern daher, nachdem sie bereits vor der EM zum Problemchen mutiert war. Die geplante Pyro-Show erregte Kritiker, weil sie gefährlich sei und ein falsches Signal an Fußballfans senden würde, denen das Zündeln strengstens verboten ist. Aber keine Aufregung, sagte die UEFA, wir machen das in geordnetem und sicherem Rahmen. Und so werden ein paar Pyro-Stangen in die Höhe gereckt und ansonsten wird in bunten Kostümen getanzt.
Die Fans in der Allianz-Arena fiebern aber eher auf ein spannendes Spiel hin. Mit dabei: unzählige Schotten. 200.000 sollen in München sein, rund 10.000 im Stadion. Mit Kilts, Dudelsack und Gesang sorgt die "Tartan Army" schon in den vergangenen Tagen für ordentlich Party in der bayerischen Landeshauptstadt. Aber auch etliche DFB-Anhänger und -Anhängerinnen feiern stimmungsvoll Stunden vor dem Anpfiff in der Innenstadt.
Wie weit kommt das DFB-Team?
Sportlich gibt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft noch ein großes Rätsel auf. Nach den enttäuschenden WM- und EM-Turnieren 2018, 2021 und 2022 muss sich das DFB-Team beweisen - und steht vor heimischen Publikum unter Druck. Der vierte EM-Triumph sollte normalerweise das Ziel sein, doch nach dem Debakel in Katar, dem Aus in der Gruppenphase. Doch die Vorbereitung lief alles andere als optimal. Nach dem Katar-Debakel und dem Aus in der Gruppenphase erlebte die Nationalelf auch 2023 ein desaströses Länderspieljahr. Die miserablen Auftritte mündeten in der ersten Bundestrainer-Entlassung in der langen Geschichte des DFB.
Auf Hansi Flick folgte deshalb Julian Nagelsmann, der die Nationalelf zur Heim-EM führt und gegen Schottland sein erst neuntes Spiel als Bundestrainer bestreitet. Auch Nagelsmanns Start war wackelig und sportlich enttäuschend, mit nur einem Sieg aus den ersten vier Spielen. Zu Jahresbeginn wagte er deshalb den radikalen Neubeginn im DFB-Kader. Es gab einen Frühjahrsputz, mit klarem Rollendenken und einem Leistungsprinzip: Altgediente Spieler wie Leon Goretzka und Mats Hummels wurden aussortiert, zurückkam der sechsfache Champions-League-Sieger Toni Kroos, der bei der Heim-EM seine beeindruckende Karriere beenden wird.
Seither wird das DFB-Team von einer vorsichtigen Zuversicht begleitet - die Hoffnungen auf ein erfolgreiches Turnier sind zurück. Angeführt von Kapitän İlkay Gündoğan und Kroos gewann das DFB-Team die Länderspiele im März gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1). Die Erfolge sorgten für einen Umschwung, erst die beiden EM-Generalproben kurz vor der EM dämpften ein wenig. Beim 0:0-Remis gegen die Ukraine stimmte zwar die Leistung, aber das Ergebnis nicht - beim 2:1 gegen Griechenland war es umgekehrt. Die Vorrundengruppe gegen Schottland, Ungarn (19. Juni, 18 Uhr) und der Schweiz (23. Juni, 21 Uhr/alle bei MagentaTV und im ntv.de-Liveticker) scheint auf jeden Fall nicht unmöglich, danach ist alles möglich - positiv wie negativ.
Krise, Bahn, Sicherheit
Aber diese EM ist nicht nur Sportereignis. Sie soll noch mehr können: den gesamten Kontinent einen? Die Ängste und Sorgen der Bürgerinnen und Bürgen, den Ärger über Inflation und Bahn-Verspätungen vergessen machen? Eine offene Gesellschaft präsentieren, während in Deutschland rechte Kräfte erstarken und Fremdenfeindlichkeit zunimmt? Möglicherweise ist dieses Turnier aus deutscher Sicht erneut heillos überladen. "Katar 2.0" statt "Sommermärchen 2.0"? Julian Nagelsmann wollte, dass seine Fußballer sich nur aufs Kicken konzentrieren können. Und doch geht es wieder um andere Themen.
Bundeskanzler Olaf Scholz verspricht sich von den kommenden Wochen eine Zeitenwende, einen Stimmungsaufheller, Vizekanzler Robert Habeck "ökonomische Effekte" nach Jahren des Abschwungs durch Corona-, Energie- und Wirtschaftskrisen. Bundesminister Cem Özdemir warnt jedoch vor zu hohen Erwartungen, man dürfe nicht davon ausgehen, dass der Fußball, "Probleme löst, die woanders gelöst werden müssen".
Erneute Zweifel an dem "Sommermärchen"-Charakter warf die Europawahl vor einer Woche auf. In Österreich und Frankreich gewannen rechtspopulistische Parteien, in Deutschland holte die AfD fast 16 Prozent. Die Europäische Gemeinschaft litt unter den Großkrisen der vergangenen Jahre (Corona und der russische Angriff auf die Ukraine) und droht auseinanderzudriften. Es ist die Hoffnung der Veranstalter, dass die EM daran etwas ändern kann.
Dazu soll das Turnier, bei dem seitens der Organisatoren ein Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit gelegt wird, zur Bahn-EM werden, schließlich können alle Fans mit Tickets relativ günstig Bahn-Tickets erwerben, um zu den Spielorten zu gelangen. Allerdings dürfen ausländische Fans auf dem Weg nach München lange vor dem ersten Pass die überfüllten Züge und Verspätungen kennenlernen, die für viele Deutsche mittlerweile zum ärgerlichen Standard geworden sind.
Nicht nur für die kriselnde Bahn, auch für die deutschen Sicherheitsbehörden wird das Heim-Turnier ein Kraftakt. Die Millionen Menschen wollen nicht nur transportiert, sondern auch geschützt werden. Terroristen, Hooligans und Cyberattacken: Die Gefahrenlage ist diffus, aber vorhanden. Einzeltäter seien nicht ausgeschlossen, sagte Innenministerin Nancy Faeser zuletzt. Das Sicherheitskonzept wurde über Monate erarbeitet. Pro Tag sind ihren Angaben zufolge täglich 22.000 Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei im Einsatz - sie schützen die Fanmeilen, Stadien und die 24 teilnehmenden Mannschaften.
Noch einmal strahlt der Kaiser
Es bleibt an erster Stelle zu hoffen, dass Deutschland in den kommenden vier Wochen fröhlichen und friedliche Fanfeste erlebt. Großereignisse können ihre ganz eigene Dynamik entwickeln, erste Ansätze davon lassen sich schon in dem von Schotten gefüllten München erkennen.
Doch auf der DFB-Elf lasten Erwartungen aller Art. Wird sie bestehen? Vor ihrem Auftakt wird in München einer der Größten, der je ihr Trikot getragen hat, erneut geehrt: Franz Beckenbauer. Unter herzlichem Applaus trägt seine Witwe Heidi den EM-Pokal auf den Rasen.
Vielleicht bekommt in genau einem Monat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft diesen Silberpokal in Berlin in die Hände gedrückt. Doch nun, in Ehren an den Kaiser, heißt es, während Millionen Menschen an TV-Bildschirmen, auf Fan-Meilen oder im Stadion mitfiebern, für die DFB-Elf zunächst: "Geht's raus und spielt's Fußball!"
Quelle: ntv.de