Fußball-EM

Einzelkritik zum DFB-Spektakel Diesen Gosens werden sie nie mehr vergessen

Rund um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft herrscht bleierne Schwere, zu lange schlagen zu viele mittelmäßige Auftritte aufs Gemüt. Mit einem Spiel könnte nun vieles davon weggewischt sein. Das DFB-Team stürmt sich nach der Pleite gegen Frankreich in die Europameisterschaft zurück.

Über der EM-Arena von München kreisen schon am frühen Nachmittag, Stunden vor dem zweiten Gruppenspiel der DFB-Elf drei Helis, es grölt das obligatorische "Deutschlaaaaaand .... Deutschlaaaaaand ... Deutschlaaaaaand .... Deutschlaaaaand..." aus allen Ecken. Die Sonne knallt erbarmungslos. Seit dem so furchtbar missglückten Protestversuch einer Umweltschutzorganisation zum Auftaktspiel, bei dem nur durch großes Glück keine Katastrophe passierte, wissen alle: Scharfschützen gehören zur Stammformation bei den Spielen. Es herrscht ein Hauch von Endzeit rund um dieses erste Endspiel für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei dieser Europameisterschaft.

Über diesem Turnier liegt nicht nur der Schleier der weiterhin nicht ausgestandenen Pandemie, sondern - und das ist wohl die schlimmere Euphoriebremse - auch die über Jahre gewachsene Skepsis der deutschen Fußball-Öffentlichkeit gegenüber der deutschen Nationalmannschaft.

Die erste schlechte Nachricht gab es für das DFB-Team und alle, die es mit ihm halten, indes schon weit vor dem Anpfiff des eigenen Teams: Die Ungarn, der größtmögliche, bei allen Überlegungen weitestgehend ausgeklammerte Außenseiter Ungarn lieferte dem von Löw und Co. so stark geredeten Weltmeister ein großes Spiel. Mit Tempo und Mut erspielten sie sich die Chancen, die sich Toni Kroos und seine Kollegen nach dem Auftaktspiel nur eingeredet hatten. Und sie schossen sogar ein Tor. Am Ende holten sie einen Punkt. Und man musste sich schon vor der Aufgabe Portugal fragen: Wie zum Teufel sollen die Deutschen diese Ungarn schlagen?

Und dann kam genau das Spiel, das sie gebraucht haben, die deutschen Nationalkicker und ihr Trainer. Nicht nur wegen der Punkte. Ein 4:2 gegen Portugal, 50 Minuten durchaus berauschend. Joachim Löw hatte auf Änderungen verzichtet, taktisch und personell schickte er exakt die Formation ins Rennen, die schon zum Auftakt auflief. Das sorgte bei manchem Experten und bei vielen Fans wohl für Entsetzen, wenn man Löw schon länger begleitet, kam das aber nicht überraschend. Und seine Mannschaft, der er das Vertrauen geschenkt hatte, gab ihm recht. Die Erkenntnis eines aus deutscher Sicht großen Abends: Sind die Spieler gut, gedankenschnell, effektiv und mutig, ist das System nur ein Rahmen, kein Korsett. Und wenn dann noch der Gegner mitspielt, entwickeln sich die Dinge manchmal fast automatisch.

Die deutsche Mannschaft in der Einzelkritik:

Manuel Neuer:

Beim 4:2 schien der Kapitän ein bisschen zu früh abgeschaltet zu haben, beim 0:1 war er machtlos: Manuel Neuer fing sich mehr Tore ein, als er Bälle hielt. Das spricht nicht gegen den Kapitän, sondern für die Defensivleistung der deutschen Mannschaft, die den Portugiesen um ihren Superstar und Tormaschine Cristiano Ronaldo erstaunlich wenig erlaubte. Angesichts der unglaublichen Vertikalpässe, die Neuer aus dem eigenen Sechzehner spielt, wäre auch er einer, der sich noch in die Diskussion um die Besetzung der Mittelfeldzentrale einmischen könnte.

Matthias Ginter:

Der Gladbacher ist die absolute Nummer-sicher-Lösung: Zuverlässig, mit einem klaren Spiel frei von Schnörkeln. Löw schätzt das an ihm. Arbeitet nicht nur zuverlässig im Verbund mit seinen Nebenleuten, sondern auch im Zweikampf mit europäischen Topleuten. Heute machte er dem guten Diogo Jota das Leben schwer. Nicht aus der Mannschaft zu denken.

Antonio Rüdiger:

Anders als Nebenmann Ginter streute Antonio Rüdiger heute die eine oder andere Leichtsinnigkeit. Hackentricks am eigenen Sechzehner sind nicht das, was der Bundestrainer von seiner Dreierkette sehen möchte. Der emotionale Leader dieser Hintermannschaft, warf sich in jeden Zweikampf und pushte die Nebenleute immer wieder.

Mats Hummels:

In der 18. Minute spielte Mats Hummels einen Sensationsaußenristpass auf Robin Gosens, dazu gab es diverse klassische Hummels-Dinge zu sehen: Zweikämpfe, die schon vor der Entstehung gewonnen wurden. Und das ist eben die Qualität des Dortmunders, für die er in die Nationalmannschaft zurückgeholt wurde. Dass Cristiano Ronaldo irgendwann kaum noch Lust hatte, ihm selbst einfachste Dinge misslangen, das hatte viel mit dem deutschen Abwehrverbund zu tun. Und dem steht der Weltmeister nun mal vor.

Joshua Kimmich:

Nein, Joshua Kimmich bemühte sich nicht sehr offensiv, seine Abschiebung aus dem Zentrum auf die rechte Außenbahn schönzureden. Der Bayern-Profi vermisst dort den permanenten Zugriff aufs Spiel. Und doch nahm der 26-Jährige höchst entscheidend Einfluss aufs Spiel: Mit einer klugen Verlagerung setzte er sein überragendes Gegenüber Robin Gosens ein, der den Ausgleich vorbereitete. Die Assists zum 2:1 und zum 4:1 sammelte Kimmich dann persönlich. Viele Argumente lieferte Kimmich dem Bundestrainer nicht, irgendetwas zu verändern.

Robin Gosens:

Dem Italien-Legionär gelang ein Sensationstor in der 5. Minute, nachdem er vorher schon dreimal in aussichtsreiche Position starten wollte, von den Kollegen aber übersehen wurde. Leider wurde dem Mentalitätsspieler der Treffer wegen einer Abseitsstellung von Serge Gnabry wieder aberkannt. Ärgerlich, aber in der Rückschau eine Randnotiz. Für 30 Minuten war der 26-Jährige der vergessenste Nationalspieler in der langen Länderspiel-Geschichte des DFB seit Fritz Becker, dem ersten Torschützen in eben jener Geschichte. Gosens, der beinahe seinen kompletten Arbeitstag ohne Gegenspieler blieb, wurde jedenfalls permanent von seinen Kollegen vergessen und als sie sich seiner endlich erinnerten, ging permanent die Post ab. Gosens machte ein bärenstarkes Spiel auf seiner linken Seite, besonders offensiv. Denn er war auch einer der meistvergessenen Spieler der portugiesischen Länderspielgeschichte. Bis zu seiner Auswechslung nach gut einer Stunde begeisterte der Linksfuß seine Kollegen und das deutsche Publikum. Zum Glück machte er auch noch sein Tor. Nun werden sie ihn nie vergessen. Nicht in Deutschland, nicht in Portugal.

Toni Kroos:

Toni Kroos tat mal wieder Toni-Kroos-Dinge: Klare Sachen machen. Und das diesmal deutlich vertikaler als noch gegen die Franzosen. Präsent, aufmerksam. Den letzten und den vorletzten Pass spielen einfach andere, der Weg dorthin führt aber weiter oft über Kroos. Der Taktgeber des deutschen Spiels ist seit Monaten, eher seit der verpatzten WM 2018 nicht mehr unumstrittener Fixpunkt im DFB-Team. Aber unter Joachim Löw wird der 31-Jährige bis zum nahenden Ende von dessen Ära gesetzt bleiben. Es spricht einfach zu oft zu wenig dagegen.

Ilkay Gündogan:

Ilkay Gündogan ist ein brillanter Fußballer, bei Manchester City, diesem wunderbaren Ensemble von Ausnahmekönnern, gesteuert vom (bis zu den entscheidenden Momenten) genialen Pep Guardiola, ist er das Gehirn, der kreative Geist für die großen Augenblicke. Torgefährlicher Stratege. Im DFB-Team muss Gündogan weiter hinten spielen, als Teil einer Doppel-Sechs mit Toni Kroos. Und ist da Teilen seiner Effektivität beraubt. Zu weit entfernt vom Sechzehner, zu viel mit dem Balltragen beschäftigt. Das macht er nie schlecht, aber glänzen kann er nicht. Das ist in der Regel nicht seine Schuld und Teil der Idee des Bundestrainers. Es bleibt schade, zu oft neutralisieren sich der ähnlich brillante Kroos und sein Nebenmann etwas.

Kai Havertz:

Chelseas Champions-League-Held rammte in der ersten Minute den portugiesischen Haudegen Pepe um. Konnte man durchaus als Zeichen werten, dass Havertz, der umstrittenste unter den deutschen Angreifern, sich einiges vorgenommen hatte. Beim Konter, der zum Gegentor führte, musste er den letzten Mann geben. Und tat das bemerkenswert orientierungslos. Aber das Verteidigen, das ist halt auch nicht die Kernkompetenz des 22-Jährigen. Und weil er aufgerundet zwei Tore machte, war das dann auch schnell egal. Eigenartigerweise wirkte der Angreifer rund um seine Tore wie einer der unglücklichsten Menschen im deutschen Taumel. Der Mann steht unter Druck, diese 90 Minuten, in die er wieder nicht überzeugend startete, sollten überaus stark zum Stressabbau beigetragen haben. Giftig und effektiv war er schon wieder, es geht aber noch ein bisschen mehr. Dafür hat der Mann einfach zu viel Klasse. Man darf, man muss davon ausgehen, dass das 15. Länderspiel für ihn auch eines zum Freispielen war. Schlechte Nachrichten für Ungarn.

Thomas Müller:

Sein 104. Länderspiel war mal wieder so ein typisches Thomas-Müller-Spiel: Als freies Element sorgte er für Unberechenbarkeit im deutschen Angriff und dafür hatte Joachim Löw ihn ja zurückgeholt. Natürlich, daheim, beim FC Bayern fallen mehr gefährliche Situationen für ihn selbst ab, weil sich die gegnerische Abwehr in der Regel auf Tormaschine Robert Lewandowski kapriziert. Aber wie anstrengend muss es für eine Abwehrreihe sein, wenn mit Serge Gnabry, Kai Havertz und eben Müller drei Spieler angestürmt kommen, die keiner vorhersehbaren Abschlussposition zuzuordnen sind? Eben. Kurios: Müller, der bei Weltmeisterschaften zweimal Deutschlands bester Torschütze war, wartet weiter auf seinen ersten Treffer bei einer Europameisterschaft.

Serge Gnabry:

Das 23. Länderspiel war ein gutes für Serge Gnabry. Der 25-Jährige musste wieder zentral angreifen, was er aus dem Verein nicht gewohnt ist. Weil Deutschland aber die klassischen Mittelstürmer ausgegangen sind, weil sie auch nicht mehr uneingeschränkt gewünscht sind, macht Gnabry das beste draus - und das war gegen Portugal viel. Viel Engagement, viele Ballkontakte, kein Tor. Das war aber auch egal. Denn zentrale Angreifer der neuen Generation werden eben auch nicht mehr nur an Toren gemessen.

Marcel Halstenberg:

Hatte das Pech, dass er Teil der Verwirrung wurde, die nach dem kräftigen Durchwechseln entstand. Nicht immer sicher, aber auch nicht spielentscheidend wackelnd. Das lag vor allem daran, dass das Spiel schon entschieden war.

Emre Can:

Der Dortmunder kam, als das Spiel eigentlich entschieden war - und trug dann noch manches dazu bei, dass es beinahe nochmal arg spannend geworden wäre: Can schenkte den Portugiesen in der 78. Minute völlig unnötig einen Eckball, in dessen Folge Ex-Bayern-Profi Renato Sanches den Ball gegen den Pfosten nagelte.

Niklas Süle:

Der Bayern-Profi, der einst ausersehen war, der neue Abwehrchef des DFB zu werden, steht längst wieder im zweiten Glied. Als er sich viele Monate vor dem ursprünglichen EM-Termin im Sommer 2020 das Kreuzband riss, sorgte die Nachricht für einiges Entsetzen. Inzwischen ist die Personalie kaum mehr als ein Schulterzucken wert, denn der Hüne hat eine komplizierte Saison hinter sich. Und wenn Süle wieder an seine Topform anknüpfen kann, die ihn zum Hoffnungsträger in der deutschen Innenverteidigung hatte werden lassen, darf sich Fußball-Deutschland freuen. Jetzt durfte er zumindest einige Minuten EM-Luft schnuppern.

Leon Goretzka:

Mancher hatte nach dem Auftaktspiel gehofft, dass Leon Goretzka der Problemlöser fürs deutsche Team werden könnte. Doch der Bundestrainer wiegelte ab, dem Ein-Mann-Rollkommando fehle es nach seiner Verletzungspause noch an manchem, um über große Distanz eine Verstärkung zu sein. Löw hatte nicht geblufft, Goretzka ist aber immerhin wieder zurück.

Leroy Sané:

Ilkay Gündogan hatte sich mehr Spielzeit für den ehemaligen Kollegen bei Manchester City gewünscht, Joachim Löw schenkte aber doch wieder Kai Havertz das Vertrauen. Und man darf aus deutscher Sicht heute froh sein, dass Löw Bundestrainer ist und nicht Gündogan. Sané kam spät und blieb ohne Szene.

Quelle: ntv.de

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