Fußball-WM

WM-Blamage als bittere Realität Deutschlands Fußball - ein Trümmerfeld

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Der deutsche Fußball liegt am Boden, Jamal Musiala auch.

(Foto: picture alliance / DeFodi Images)

Mit großen Ambitionen startet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in die Katar-WM. Sogar der Titel wird als Ziel laut genannt. Doch die Realität ist gnadenlos frustrierend. Nach 2018 scheitert die deutsche Elf zum zweiten Mal in der Vorrunde. Ein Unfall ist das nicht.

Der deutsche Fußball liegt am Boden, er liegt sogar in Trümmern. Wer das anders sieht, verkennt die Realität. Wie schon vor vier Jahren scheitert das DFB-Team in der Vorrunde - und das Erreichen des Achtelfinals bei der EM im vergangenen Jahr geht auch nur bei den kühnsten Optimisten als kleines Zwischenhoch durch. Deutschland ist von der Weltspitze weit entfernt. Und tritt, wenn man ehrlich ist, seit vier Jahren auf der Stelle. Die Schritte, die Hansi Flick mit der Mannschaft als Bundestrainer gegangen ist, waren in Summe keine. Ein schnelles Vor und ein zähes Zurück - ohne Raumgewinn.

Und an diesem Donnerstagabend fehlt die Fantasie, dass im Sommer 2024 alles besser aussehen wird. In anderthalb Jahren steht die Heim-EM an. Bis dahin soll Flick aus dem DFB-Team wieder einen Titelanwärter geformt haben. Kaum etwas wirkt in diesen Tagen von Doha als größere Utopie. Zu groß scheinen die strukturellen Probleme im deutschen Fußball.

Triste Aussichten auf den Außen

Das beginnt beim Personal: Neben Antonio Rüdiger fehlt ein zweiter Innenverteidiger auf höchstem Niveau. Ein heldengrätschendes Bollwerk wie etwa 2014 mit Mats Hummels und Jerome Boateng ist nicht in Sicht. Nico Schlotterbeck hat vielleicht das Potenzial, hatte aber nicht die Form und zu viele Aussetzer im Spiel. Über Niklas Süle wird seit jeher gestritten. Auch ihm fehlt es mindestens an Konstanz. Vielleicht wird Armel Bella-Kotchap das nächste große Ding in der deutschen Abwehr. Er erinnert an den jungen Boateng - aber er ist mit 20 Jahren noch sehr jung und hat keine Erfahrung auf internationalem Niveau.

Noch trister sind die Aussichten auf den defensiven Außenbahnen und im Sturm. Rechts und links hat Deutschland zurzeit nur Mittelmaß im Angebot. Thilo Kehrer, Lukas Klostermann, David Raum, Christian Günter und Benjamin Henrichs - allesamt gute Fußballer. Aber keiner verkörpert Weltklasse, keiner vereint etwa die Qualitäten eines Alphonso Davies, dessen deutsches Äquivalent Flick für seine offensive taktische Ausrichtung so gerne hätte. So muss er sich entscheiden, für einen Spieler, der defensiv stabil steht oder Druck nach vorne macht.

Havertz stagniert, Warten auf Moukoko

Im Sturm schafft es ein Kai Havertz zu selten, den Weltklasse-Ruf, der ihm vorauseilt, mit Aktionen zu füttern. Seine Entwicklung scheint eher zu stagnieren als voranzuschreiten. Niclas Füllkrug ist ein guter, selbstbewusster Platzhalter für den Moment, mit seinen 29 Jahren aber kein Versprechen mehr für die Zukunft. Vielleicht löst ja Youssoufa Moukoko eines Tages die Effizienz-Probleme vor dem gegnerischen Tor. Er hat riesiges Talent, ist aber gerade mal 18 Jahre (!) alt geworden und etabliert sich in diesen Monaten auf einem guten Bundesliga-Niveau. Aber wo schlummert die Weltklasse? Klar, in den Füßen von Jamal Musiala, vielleicht in denen von Florian Wirtz. Aber sonst? Wird es eng. Es mangelt auch an Durchsetzungsstärke. Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Ilkay Gündogan haben sicher kein schlechtes Turnier gespielt, in den entscheidenden Momenten konnten sie die Mannschaft als ausgemachte Führungsspieler aber nicht stabilisieren, sie vor dem Untergang retten.

Und auch Flick wird sich hinterfragen müssen. Wie viel eigene Überzeugung hat er gegen die Realitäten des Kaders durchgesetzt? Wie viel Mut hat er bei der Aufstellung bewiesen? Wie viel Rücksicht auf gute Stimmung hat er genommen und dabei schmerzhafte Entscheidungen vermieden? Der formschwache Thomas Müller ist das Stichwort. Ungeachtet dessen aber bleibt Flick der richtige Mann. Er hat beim FC Bayern bewiesen, wie er am Boden liegende Mannschaften schnell aufrichten kann. Dort allerdings lag es weniger an fehlender Qualität auf höchstem Niveau, sondern eher an Spielern ohne Selbstvertrauen.

Aberwitziger Widerspruch zwischen Selbsteinschätzung und Realität

Um den deutschen Fußball in den nächsten Monaten wieder aufzurichten, braucht es in einem ersten Schritt ein gnadenlos ehrliches Eingeständnis: Ambitionen sind gut, Utopien fatal. Viel ist jetzt die Rede davon, dass die Nebengeräusche um die "One-Love"-Binde die Spieler zu sehr belastet hätten. 2018 war es um das Foto von Mesut Özil und Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gegangen. Dieser Vorwurf richtet sich an die Spitze des DFB, an Präsident Bernd Neuendorf und Direktor Oliver Bierhoff. Ihnen war es nicht gelungen, den Druck von der Mannschaft zu nehmen. Das Einknicken vor dem FIFA-Verbot beim Thema Binde und ein starkes Zeichen als Wiedergutmachung wurde auf dem Rücken der Fußballer ausgetragen. Nicht allen ist der Spagat zwischen der erzwungenen moralischen Verantwortung und dem Spiel auf dem Feld gelungen.

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Anders als für Flick, außer er hegt selbst den Gedanken an einen Rückzug (tut er indes nicht), könnte das dritte Debakel in vier Jahren für Bierhoff gefährlich werden. Er hatte den deutschen Fußball zweckentfremdet. Hatte die Zuneigung der Fans durch seltsame Marketing-Claims knallhart erkalten lassen. Das DFB-Team wirkte in den vergangenen Jahren phasenweise, ganz besonders im Sommer 2018, wie ein entrücktes Kunst-Produkt und nicht mehr als das, was es früher einmal wahr: Die Mannschaft, der Deutschland die Daumen drückte.

Von all den schweren Lasten hat sich das Team nie befreien können, nie eine eigene Identität, eine Hierarchie, ein Leadership aufbauen können - nun ist es sportlich ein drittes Mal kollabiert. Dass es nicht mal reicht, um die Vorrunde zu überstehen, offenbart den aberwitzigen Widerspruch zwischen Selbsteinschätzung und Realität.

Quelle: ntv.de

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