Müller raus? Kimmich versetzt? Die heikelsten Fragen, die Flick je klären musste
26.11.2022, 08:16 Uhr
Hansi Flick grübelt derzeit intensiv über seine Aufstellung gegen Spanien.
(Foto: dpa)
Hansi Flick und die deutsche Nationalmannschaft stehen bei der Fußball-WM mit dem Rücken zur Wand - und vor dem Aus. Vor dem entscheidenden Duell gegen Spanien entbrennen wilde Personaldiskussionen. Für das DFB-Team ist es ein Spiel, das gravierende Folgen haben kann.
Wenn Hansi Flick an Brasilien denkt, dann bekommt der Bundestrainer noch immer warme Gefühle. Das liegt weniger an den muckeligen Temperaturen im 2014er-Sommer und auch nicht an den aktuell sommerlichen Temperaturen in Katar, wo Hansi Flick den bislang größten Sturm seiner Amtszeit aushalten muss.
Zusammengebraut hatte sich dieser in der erschütterten Heimat (nach der 1:2-Pleite gegen Japan) und dem euphorisierten Spanien (7:0-Sieg gegen Costa Rica). Irgendwo über dem Mittelmeer hatten sich die beiden Winde zu einem mächtigen Hurrikan vereinigt und auf den Weg zum "Zulal Wellness Resort" gemacht. Zu jenem weit vor den Toren Dohas gelegenen Ort, der doch das katarische "Campo Bahia" hätte werden sollen - nun aber (vorerst nur) von den Ausläufern heftig durchgeschüttelt wird.
Die Ruhe, die Harmonie, das Glück aus den warmen Tagen im Wellness-Tempel in der Gemeinde Santa Cruz Cabrália sind eine schöne Erinnerung. Die Erinnerung an eine Zeit, in der im deutschen Fußball einiges besser war. Man muss die Vergangenheit nicht verklären, stellt man 2014 und 2022 aber gegeneinander, dann ist die Lage eben so: In Brasilien sorgte lediglich das Eistonnen-Interview von Per Mertesacker für Reibung, in Katar nun sind es so viele andere Dinge, die ein Reizklima schaffen. Indes nicht nur sportliche. Überlagert wurde der erste Auftritt der Mannschaft von der Diskussion um die "One Love"-Binde, das Einknicken des Verbands gegen das FIFA-Verbot und der Kampf um ein starkes Zeichen als Wiedergutmachung.
Zeit der Wahrheit, wie einst 1974
Ob die "Mund zu"-Geste dafür taugt? Das wurde divers diskutiert. Weniger Meinungsvielfalt herrschte dagegen bei der Bewertung der deutschen Leistung gegen Japan. Die durchgesetzte Mehrheitsbeobachtung: 60 Minuten war es okay, dann wurde gewechselt und schließlich versank jede Stabilität im Persischen Golf. Und mit ihr auch die gute, besser, die optimistische Stimmung. Vor Ort, nicht in der Heimat, dort ist das Desinteresse an der WM mit schwachen TV-Quoten gut dokumentiert. Aber zurück nach Katar: Mit Blick auf den heranrasenden Hurrikan herrscht Reizklima im Team. Kai Havertz sprach am Freitag davon, dass es Zeit war, "sich die Wahrheit zu sagen." Eine krachende Aussprache wie 1974? Als Deutschland gegen die DDR kollabiert und das Land in Aufregung war. Mit der Folge, dass nur wenige Tage später Jugoslawien hergespielt wurde.
Ob sich die Dinge von vor 48 Jahren wiederholen lassen? Es ist die spannende Frage vor dem "Endspiel" gegen Spanien am Sonntagabend (20 Uhr im Liveticker bei ntv.de). Bei einer Niederlage droht der denkbar frühste K.o. (wie sie hier nochmal nachlesen können). Erst einmal in der deutschen Geschichte scheiterte das Team schon nach zwei Spielen, 1938 in Frankreich war das. Es wäre, soweit darf man sich aus dem Fenster lehnen, ein historischer Tiefpunkt. Einer, der vieles, vielleicht sogar alles infrage stellen würde. Von der Ausbildung in den U-Mannschaften bis hin zum Mut und zur Taktik des Bundestrainers.
Ob Flick als Mann der Wahl infrage gestellt werden würde? Eher unwahrscheinlich. Sein nominierter WM-Kader wurde vorab kaum kritisiert, höchstens in Nuancen, siehe Mats Hummels. Das Aufgebot galt vielen als denkbar beste Auswahl. Flick hat vielmehr mit den strukturellen Problemen des deutschen Fußballs zu kämpfen, die auch schon auf Vorgänger Joachim Löw lasteten. Und dennoch dürfte es das wichtigste Spiel seiner Trainerkarriere sein. Ein Vorrunden-Aus bei einer WM lässt sich weder schnell tilgen, noch leicht wegdiskutieren.
Flick kennt sich mit DFB-Unterwettern aus
Und Flick hat ja bereits bewiesen, wie er komplizierten Wetterlagen trotzen kann. Als das DFB-Team nicht nur sportlich aus der Weltspitze verschwunden war nach dem WM-Debakel 2018 und dem frühen EM-Aus 2021, sondern sich durch abgehobene Marketing-Claims von den Fans entfremdet hatte, als "dunkle Wolken" auf der "Die Mannschaft" lasteten, da trat er nicht nur als menschenfangender Bundestrainer die Nachfolge von Joachim Löw an, sondern sortierte die Dinge auch auf dem Feld schnell wieder gewinnbringend ein. Zwar waren die Gegner nicht immer die stärksten, dafür aber spielte Deutschland wieder munteren, manchmal mitreißenden Fußball. Dass aber genau das stagnierte, gar kippte, dass Spiele wie jetzt gegen Japan nicht erfolgreich zu Ende gespielt wurden und für Frust sorgten, je näher Katar kam, gehört auch zur Wahrheit.
Wie diese tatsächlich aussieht, das entscheidet sich an diesem Sonntag. Das Team der Nationalmannschaft, der Trainer, die Spieler selbst sparten vor dem Turnier in der Wüste nicht mit ihrem Glauben an die eigene Stärke und hielten den WM-Titel für möglich. Diesen Weg zurück nach oben hatte DFB-Direktor Oliver Bierhoff seinem neuen Bundestrainer als Ziel formuliert. Noch nicht zwingend in Katar, aber bei der Heim-EM 2024 sollte Deutschland wieder ein Top-Favorit sein.
Das Team wird umgebaut, aber wie?
Vor dem Spiel nun entbrennen wilde Diskussionen um die richtige Aufstellung. Klar scheint: Die Mannschaft wird verändert. Flügelstürmer Leroy Sané drängt nach seinen Kniebeschwerden in die Startelf. Aber wer muss für ihn weichen? Serge Gnabry, der gegen Japan unzählige Topchancen liegen gelassen hatte, aber eben in der zweiten Halbzeit sehr agil war? Eher nicht. Jamal Musiala? Ausgeschlossen. Absolut ausgeschlossen. Thomas Müller? Wahrscheinlich! Der von Flick eigentlich für unverzichtbar gehaltene Chef-Kommunikator und Pressing-Anführer kämpft nach seiner Verletzungspause mit der Form. Im Auftaktspiel fiel er deutlich ab und wirkte nicht fit. Ein K.o. nun könnte auch das Ende seiner (großartigen) internationalen Karriere bedeuten. Von der Bank aus.
Müller raus aus der Startelf würde bedeuten: Musiala rückt von links auf die Zehn. Auf dieser Position hatte er die Bundesliga und alle Experten in der Hinrunde in Ekstase versetzt. Lothar Matthäus sang Hymnen. Der wohl anerkannteste TV-Analyst nannte ihn "unverzichtbar", sprach schwärmende Messi-Vergleiche aus und heftete ihm direkt mal ein Preisschild von einer "Viertelmilliarde" Euro an. Mit Musiala bekäme das Spiel vermutlich mehr Ideen, mehr Tempo, mehr Gefahr. Gegen Japan gab es Ballbesitz, aber keine Überraschungen.
Die Besetzung der "Zehn" ist nur eines von mindestens vier Problemen. Wer spielt im Sturm? Havertz erwischte gegen Japan einen gebrauchten Abend, um es vorsichtig auszudrücken. Bekommt der international unerfahrene Niclas Füllkrug im wichtigsten DFB-Spiel der vergangenen Jahre gegen einen mächtigen Gegner nun eine Chance? Es wäre eine mutige Entscheidung. Aber vielleicht gegen diesen Gegner eben nicht die richtige, wie Kulttrainer Winnie Schäfer im Gespräch mit ntv.de erklärte. Gegen die ballsicheren Spanier könnte Havertz mit seinen Stärken die bessere Wahl sein.
Und wie läuft's im zentralen Mittelfeld? Joshua Kimmich gilt als eigentlich unverrückbare Instanz. Flick schätzt den Einfluss des Bayern-Antreibers auf das Spiel einer Mannschaft über alle Maßen. Schon zu gemeinsamen Münchner Zeiten war das so. Da allerdings hatte Flick mit Benjamin Pavard einen zuverlässigen Mann für die rechte defensive Außenbahn. Das ist dann eben die Krux des Nationaltrainers: Du kannst nominieren, wen du willst, aber eben nur mit dem entsprechenden Pass. Einen Problemlöser zukaufen, wie im Vereinsfußball, das geht eben nicht. Würde er Kimmich versetzen und Müller auf die Bank packen, würde Flick gleich zwei seiner Grundüberzeugungen verwerfen. Mutig in solch einem Spiel.
Aber ihm fehlt halt ein Rechtsverteidiger auf höchstem internationalem Niveau. Und so wird nun eben mal wieder darüber diskutiert, ob Kimmich, der diese Position auf Top-Level spielen kann, nicht versetzt werden müsse. Weil im Mittelfeld mehr herausragende Alternativen zur Verfügung stehen. Etwa İlkay Gündoğan, der gegen Japan nach schwachen Anfangsminuten bis zu seiner Auswechslung ein wichtiger Stabilisator war. Oder auch Leon Goretzka, der mit seiner Power und Abschlussstärke eigentlich auch unverzichtbar ist. Gegen den Oman testete Flick das Duo und durfte verbuchen: war keine ganz so gute Idee. Allerdings war Oman auch ein Testspiel, 90 Minuten, um sich an das Klima auf der arabischen Halbinsel zu gewöhnen. Ein Muster ohne Wert.
Kimmich, Süle, Ginter oder Kehrer?
Und was passiert in der Abwehr? Rückt der Freiburger Linksverteidiger Christian Günter für David Raum ins Team? Günter gilt als taktisch disziplinierter, hat dafür nicht die Wucht im Spiel nach vorne wie der Leipziger. Weil aber Sané vielleicht wieder reinrückt, wäre das womöglich verzichtbar. Allerdings müsste Flick dafür die taktische Idealvorstellung von der asymmetrischen letzten Reihe aufgeben. Denn Günter ist niemand, der an beiden Enden dauerpräsent ist, wie einst der Kanadier Alphonso Davies bei Flicks FC Bayern.
Wie stellt sich das Zentrum auf? Antonio Rüdiger ist nicht verhandelbar. Er ist und bleibt der Chef. Rückt der als Rechtsverteidiger heftig gescholtene Niklas Süle wieder an seine Seite? Oder bleibt der ebenfalls heftig gescholtene Dortmunder Teamkollege Nico Schlotterbeck im Team? Als Alternativen stünden der stets seriöse Matthias Ginter zur Verfügung. Oder auch Armel Bella-Kotchap, der in der Bundesliga und der Premier League zwar zahlreiche Topstürmer in die Mangel genommen hat, aber noch nie ein solch wichtiges Spiel bestritten hat.
Und dann ist da noch die offene Frage nach der Besetzung hinten rechts. Flick hatte nach der Japan-Pleite zu einer Medienrunde geladen und dort seine Vehemenz aufgegeben, über die Rolle von Kimmich nachzudenken. Als wahrscheinlich gilt eine Rückversetzung dennoch nicht, vielmehr gilt der zum Auftakt überraschend nicht berücksichtigte Flick-Vielspieler Thilo Kehrer als erster Kandidat. Aber die Offenheit, mit der der Bundestrainer über die Probleme aus dem Japan-Spiel nachdenkt, ist bemerkenswert. Hansi Flick steht im Sturm und muss die heikelsten Entscheidungen seiner bisherigen Trainerkarriere treffen. Brasilien ist so weit weg.
Quelle: ntv.de