Ein Fußballfluch liegt über der Albiceleste, sie verliert Endspiel um Endspiel. Dann stirbt Diego Maradona - und etwas ändert sich in Lionel Messi. Er kehrt nun als Volksheld nach Argentinien zurück. Und als Teil einer Familie.
Ein Meer der Freudentränen flutet seit Sonntagnachmittag ein ganzes Land. Hier, wo Fußball an Religion grenzt, wo 36 Jahre seit dem vorherigen WM-Titel vergangen waren. Die Regierung hat für den heutigen Dienstag einen Nationalfeiertag ausgerufen, Schulen und Behörden bleiben geschlossen. Das Land bleibt im Ausnahmezustand.
Vom Nationalmannschaftslager nahe dem internationalen Flughafen Ezeiza wird es für Lionel Messi und Kollegen eine lange Fahrt werden bis ins Stadtzentrum von Buenos Aires, wo sie den Pokal den Menschenmassen präsentieren werden. Eine Parade, ein Siegeszug zum Obelisken, wie sie Argentinien noch nicht gesehen hat.
Schon am Sonntag waren allein dort weit mehr als eine Million Menschen auf den Straßen unterwegs und weitere Millionen im ganzen Land, nachdem der entscheidende Elfmeter im Netz versenkt worden war. Die Menschen vom Rio de La Plata bis in die Antarktis legten ihr Herz in Gesänge und taumelnde Tänze. "Somos campeón!", wir sind Weltmeister. Noch nie seit der Rückkehr zur Demokratie 1983 hatte es so viele Menschen und mit solch einer Emotion auf die Straßen getrieben, schreiben argentinische Medien. "Die Rückkehr einer Mannschaft des Volkes", titelt eine Zeitung.
Familie und Zusammenhalt
In Deutschland heißt es, elf Freunde müsst ihr sein, damit es auf dem Platz funktioniert. Bei den Argentiniern geht es um mehr: die Familie. Damit sind im engen Wortsinn ihre Partner und die Kinder gemeint, die nach dem dramatischen Schluss gemeinsam auf dem Platz mit einer Plastikflasche bolzten. Aber auch ihre Heimat in Südamerika.
Mehrere Spieler sagten ergriffen, nun sei es das Wichtigste, den Pokal der Bevölkerung zu präsentieren. Die vielen Millionen Menschen, die ihn so herbeigesehnt haben. Fast alle im Kader spielen in Europa, sie sind die Söhne, die in die Welt ausgezogen sind, um etwas zu erreichen, was vor Ort so nicht möglich ist. "Das Volk verdient diesen Pokal", sagte etwa Enzo Fernández, der als bester Nachwuchsakteur der WM ausgezeichnet wurde. Erst vor einem halben Jahr wechselte er von River Plate zu Benfica Lissabon.
"Ich hätte mir eine WM wie diese niemals erträumen können", schluchzte Torwart Emilio "Dibu" Martínez, angestellt bei Aston Villa in der Premier League: "Ich komme aus armen Verhältnissen und bin ganz jung nach England gegangen, deshalb widme ich den Titel meiner Familie." Mittelfeldmotor Rodrigo de Paul, beschäftigt bei Atlético Madrid, schwärmte in Tränen aufgelöst: "Ich liebe alle Argentinier. Ich bin stolz darauf, in diesem Land geboren zu sein."
Während in Europa die Menschenrechtsverletzungen, die Heuchelei von FIFA und Veranstaltern und anderes groß und breit diskutiert wurden, Millionen Menschen das Turnier mit Nichtbeachtung boykottierten, war es für Argentinien ein historisches Fest der Einigkeit. Für ein paar Tage vergessen sind nun die seit vier Jahren andauernde Wirtschaftskrise und die Inflation, die abnehmenden Reallöhne und andere Probleme, welche die Gesellschaft zerklüften.
In einem Video ist zu sehen, wie jemand nach dem Titelgewinn einem Müllsammler, die zu den Ärmsten der Armen gehören, ein Trikot der Selección schenkt. Der Mann mit nacktem Oberkörper kann es sichtlich kaum fassen, zieht es sich langsam über, sinkt dankbar auf die Knie, bekreuzigt sich. Da eilt ein Fan heran und umarmt ihn, andere kommen zum Feiern, während Autos hupend an ihnen vorbeiziehen.
Ein Fluch verschwindet
Die symbolischste Verbindung ist die von Diego Maradona und Lionel Messi. In seinen ersten 16 Jahren in der Albiceleste hatte Messi keinen Titel mit Argentinien gewonnen. Doch dann geschieht etwas: Diego Maradona stirbt. Der Volksheld. Das Idol. Der Mann, der Argentinien den Titel 1986 gebracht, die überheblichen Engländer ausgetanzt hatte, der bejubelt wurde für sein "kosmisches Ballett", eines der schönsten Tore der Fußballgeschichte. Dessen Konterfei überall präsent ist, so wie seine Rückennummer 10. Mit ihm auf dem Platz gewann die Selección im Jahr 1993 den letzten Titel. Nun, im November 2020, ist er tot. Hunderttausende stellen sich an, um im Regierungspalast seinen Leichnam zu sehen.
Danach verschwindet wie von Geisterhand der große Fluch. Messi wird vom Dribbler zur hängenden Spitze mit Spielmacherqualitäten. "La pelota siempre al 10", ist ein bekannter Fußballspruch der Region: Den Ball immer zur 10 spielen, denn die weiß schon was damit anzufangen. Messi hat diese Rolle. Im vergangenen Jahr gewinnt Argentinien gegen den ewigen Rivalen Brasilien die Copa América. Als Südamerikameister treten sie ins Duell mit Italien und fegen den Europameister im Finalissima vom Platz. Und nun: Weltmeister.
Bei allen drei Titeln war Lionel Messi der Regisseur und Vollstrecker, und Maradona nicht mehr auf der Erde. Kann das Zufall sein? Bei den Feierlichkeiten war auch eine Fahne zu sehen, die eine Version von Michelangelos "Die Erschaffung Adams" zeigt: Rechts Diego "D10S" Maradona als Gott, links Messi. Was könnte auch sonst der Grund sein?
Messi spielte bei diesem Turnier mit so viel Aggressivität wie selten, wusste sich auch ohne Ball durchzusetzen. Er ließ den Kopf kaum hängen, scheute keine Auseinandersetzungen auf dem Platz oder Diskussionen mit den Schiedsrichtern. Sein "Was guckst Du so, Dummkopf" in Richtung Wout Weghorst nach dem gewonnenen Viertelfinale gegen die Niederlande war einer seiner maradonianischsten Momente.
Etwa die Hälfte der Argentinier kennt den Fußballer Maradona nur aus Erzählungen, sie hatten nie einen Titelgewinn der Albiceleste bewusst erlebt. Das emotionale Beben, das am Sonntag nach dem entscheidenden Elfmeter von Gonzalo Montiel die Bevölkerung erfasst hat, ist nur so ansatzweise auf rationale Weise zu erklären. Wer weiß, ob es noch einmal 36 Jahre lang bis zum nächsten Titel dauert?
Sämtliche Spieler, die den Pokal am Obelisken in die Höhe heben werden, wuchsen mit den Bildern von Maradona in den Magazinen und im Fernsehen auf, wie er die goldene Weltkugel küsst, mit den Geschichten von Eltern und ihren Trainern, den Legenden, der Verehrung, der Ikonisierung eines Fußballers als Stimme der Benachteiligten, die sich nur mit Erfolg überall Gehör verschaffen können.
Titel für die Ewigkeit
Diego kam aus einer Villa Miseria, einem Armenviertel am Rande einer Autobahn im Großraum Buenos Aires. Er war klein gewachsen, aber konnte allen mit seiner Technik ein Schnippchen schlagen. Sein Herz schlug für Argentinien, er trug es samt Emotionen vor sich her, sein Mundwerk war auch ungeschliffen messerscharf. Maradona äußerte sich über Armut und soziale Unwuchten, wie ihm der Mund gewachsen war, und wurde damit zur politischen Figur. Fußball ist Volkssport, und Diego war, auch wegen seiner Fehlbarkeit, seiner Frauen- und Drogengeschichten, einer von vielen. Das war authentisch, nahbar.
Auch Messi hat seinen Platz in den Herzen der Argentinier. Einen anderen Platz. "Das sind zwei völlig verschiedene Charaktere und Spieler", sagt etwa ein Zeitungsverkäufer am Tag nach dem Finale auf die Frage, ob "la pulga", der Floh, jetzt auf einer Stufe mit Maradona stehe. Er hat alle argentinischen Titel miterlebt. Der erste, 1978, im eigenen Land. Dann 1986 in Mexiko. Und nun, 2022, in Katar. "Beide sind fantastisch, aber Maradona hatte etwas, das Messi nicht hat."
Der wuchs zunächst in Rosario auf, einer wirtschaftlich wichtigen Stadt für das Land, der Vater war Fabrikarbeiter, die Mutter Putzfrau. Lionel geht als 13-Jähriger gemeinsam mit seiner Familie nach Europa. Der FC Barcelona bezahlt ihm im Gegenzug eine Hormonbehandlung gegen Messis Wachstumsstörung. Er ist kein Lautsprecher auf dem Platz. Das Feuer, für das Maradona verehrt wurde, fehlt augenscheinlich.
Und so wurde Messi sehr viele Jahre kritisch beäugt. Fühlt er die Farben seines Landes, wenn er sie überstreift? Maradona trainierte ihn bei der WM 2010, und als Argentinien im Viertelfinale gegen Deutschland ausgeschieden war, saß er deprimiert bei der Pressekonferenz und verteidigte seine 10 mit trauriger Empörung. Die Tränen, die er bei Messi in der Umkleide gesehen habe, hätten bewiesen, dass er das Trikot fühle.
In dem Song "Muchachos", der in Katar in der Umkleide der Albiceleste erklang und zu Hause zum Superhit wurde, auch da gehört Messi zu dieser großen Familie, und Maradona samt seinen Eltern feuern ihn vom Himmel aus an, damit er die WM gewinnt. Die Spieler haben ihn auf dem Weg nach Buenos Aires bereits umgedichtet: Diego soll nun bis in alle Ewigkeit in Frieden ruhen. Der Auftrag ist erfüllt.
Quelle: ntv.de