"Haben uns eiskalt verarscht" Katar verprellt die Armee der Gesichtslosen

Volunteers vor einem Spiel bei der WM in Katar.

Volunteers vor einem Spiel bei der WM in Katar.

(Foto: IMAGO/Fotoarena)

Volunteers, Müllmänner, Kellner, Taxifahrer: Das ist Katars Armee der Gesichtslosen. Sie bilden das Rückgrat des Landes, aber im Alltag sollen sie unsichtbar bleiben und arbeiten ohne Beschwerden. Angeheuerte Kräfte berichten von falschen Versprechungen - und abgenommenen Pässen.

Das WM-Finale steht vor der Tür. Katar und die FIFA feiern "die beste WM aller Zeiten". Das Turnier bauen die Offiziellen für Besucherinnen und Besucher, die sich den Trip und den Eintritt leisten können, auf dem Rücken von Arbeiterinnen und Arbeitern aus den armen Teilen der Welt. Sie sind das Rückgrat dieser Weltmeisterschaft. Doch von den Lorbeeren fällt für sie nichts ab. Sie bleiben namenlos. Unbekannt. Eine Armee der Gesichtslosen, die von den Organisatoren auch noch verprellt wird.

Fans werden von den Gesichtslosen durch Doha geschleust. In die Stadien geleitet. Zu Sehenswürdigkeiten gefahren. Das Straßenbild des Turniers prägt vor allem die Armada der Helfenden an Kreuzungen, Fußball-Tempeln und in und vor den U-Bahnhöfen. Stundenlang müssen sie oft in großer Hitze ausharren, mit Schaumstofffingern den Weg weisen oder die sekündlichen, automatisierten Ansagen aus den Megafonen in ihren Händen aushalten. Anfangs geschieht das mit viel Witz, "Metro-This-Way" wird sogar zum Internet-Hit.

Nach vier Wochen WM ist das Energielevel jedoch gesunken. Gähnende Langeweile herrscht unter den Hilfsarbeiterinnen und -arbeitern, die in der U-Bahn bis drei Uhr nachts ausharren müssen. Manch einer pennt vornübergebeugt an einem Geländer ein. "Metro-This-Way"-Gesänge gibt es längst nicht mehr. Stoisch zeigen die Gesichtslosen (sie sind die einzigen, die in Katar Maske tragen) aber weiterhin die Wege, die alle bereits kennen.

Wie das Heer aus einem Actionfilm

Eine mittlerweile nutzlose Arbeit. Doch immer noch besser als Baustelle, mag sich der eine oder andere denken. Oder als die in der Klassengesellschaft Katars ebenfalls ganz unten angesiedelten Straßenarbeiter. Sie fegen den Dreck der WM-Touristen weg. Es scheint manchmal, bevor er überhaupt den Boden berühren konnte. Sie schneiden - oft tief in der Nacht, um die oberen Gesellschaftsschichten nicht zu stören - die Hecken, sprengen den Rasen. Das Grün, das es in ihrer Gegend, im Elend der Industrial Area nicht gibt. Dieser Teil der Armee der Unbekannten trägt orangefarbene, gelbe oder blaue Arbeitskleidung, mit gegen Staub und Abgase bis über die Nase gezogenen Tüchern.

Die Armee redet nicht gerne, wenn es nicht um Auskünfte bezüglich der Orientierung geht. Angst vor Strafen und Visa-Entzug, denn viele leben schon länger in Katar und versuchen hier über die Runden zu kommen. Manch einer an den Metrostationen lässt aber durchblicken, dass das Herumstehen in der Sonne nicht gerade Spaß macht. Immer wieder kann man beobachten, wie sie sich in jegliche Schattenplätze kauern. Andere erzählen, wie sie extra für das Turnier eingestellt worden sind, die Bezahlungen aber zu spät eintrudeln.

Gesprächiger sind die Bediensteten der Essensausgabe im Medienzentrum, mit denen Journalistinnen und Journalisten am häufigsten in Kontakt kommen. Mit ihren Uniformen komplett in matt-grau sehen sie tatsächlich aus wie das gesichtslose Heer eines Bösewichts in einem Actionfilm. Sie haben zwar eine eher privilegierte Position unter den Wanderarbeitenden in Katar (Westler mit gutbezahlten Jobs in internationalen Unternehmen natürlich ausgenommen), weil sie meist nur für ein paar Monate zum Jobben in das Emirat gekommen sind. Aber sie erleben hautnah, was falsche Versprechungen und Ausbeutung, die reguläre Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Katar in unglaubliches Leid stürzen, bedeuten.

"Wir waren alle schockiert, als wir hier eingetroffen sind", erzählt Julia, die ihren richtigen Namen lieber nicht preisgeben will, gegenüber ntv.de. Sowohl die Informationen bezüglich der Art und Weise des Jobs als auch über die Unterkunft, die sie vor ihrer Reise nach Katar bekommen hätten, seien falsch gewesen. Andere aus der grauen Armada, die aber aus Angst, gefeuert zu werden, nicht zitiert werden möchten, bestätigen dies. Angestellt sind sie alle mit Zeitarbeitsverträgen, eines der Exemplare liegt ntv.de vor, beim W-Hotel Doha. "A luxury lifestyle hotel", ein 5-Sterne-Hotel der US-Gruppe Marriott Hotels.

Schlafen im "Gefängnis"

"Die haben uns eiskalt verarscht. Uns wurde in den Bewerbungsgesprächen mitgeteilt, dass wir als Kellnerinnen und Kellner in echten Restaurants, etwa wie dem W-Hotel, arbeiten werden und deshalb Trinkgelder machen könnten", sagt Julia. "Im Medienzentrum wischen wir jetzt Tische ab und packen Journalisten das Essen vom Buffet auf den Teller. Das ist kein Kellnern." Trinkgeld gibt es nicht, darauf hätten sich aber viele "verlassen" und nur deshalb den Job trotz der geringen Bezahlung zugesagt. Einige ihrer Kolleginnen und Kollegen hätten Fachausbildungen aus der Hotellerie und fühlten sich verschaukelt. "Außerdem müssen wir diese schreckliche Uniform tragen", beschwert sich Julia, "diese Gefängnis-Uniform".

Hinter den Mauern hausen die Menschen aus dem Medienzentrum in Katar.

Hinter den Mauern hausen die Menschen aus dem Medienzentrum in Katar.

(Foto: David Bedürftig)

"Gefängnis" nennen die Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Medienzentrum auch ihre Unterkunft, deren Standards nicht ferner derer der Sternehotels der Marriott-Gruppe sein könnten. Bei einem Besuch fällt als erstes die hohe Mauer ins Auge, die den Neubau-Komplex umgibt. "Die Security erlaubte einer Kollegin sogar nicht, abends den Komplex zu verlassen und schloss das Tor ab", erzählt Mohammed, ein weiterer Kurzzeitarbeiter der grauen Armee, der ebenfalls lieber unbekannt bleiben will. Sie würden sich zu dritt ein kleines Zimmer teilen und wenig Privatsphäre haben. "Manchmal stinkt es nach Toilette im ganzen Haus", sagt er. Die Klos - für je 40 Leute gibt es sechs - seien am "Anfang nur Löcher" gewesen, später hätten sie notdürftig Kloschüsseln draufmontiert. Fotos der Arbeiterinnen und Arbeiter belegen das.

Mohammed hatte auf Facebook von der Jobmöglichkeit erfahren, aber unterstellt dem von der FIFA beauftragten W-Hotel "Unprofessionalität". "Ich habe einen Bachelor-Abschluss in Hotelmanagement, aber das haben sie überhaupt nicht geprüft. Die sind total unorganisiert und teilen Leute ohne Erfahrung als Manager und Leute mit Erfahrung als Tischeputzer ein." Auch habe er von Kollegen gehört, dass sie "Vermittlungsgebühren bezahlen" mussten, "damit sie hier arbeiten dürfen".

"Als Individuen nicht wahrgenommen"

Eines Tages wacht Mohammed mit einer Lebensmittelvergiftung auf. "Ich konnte nichts mehr bei mir behalten, mein Puls war ganz unten, und ich bin kollabiert", erzählt er. "Am zweiten Tag haben sie mich dann ins Krankenhaus gebracht." Aber bei seiner Abrechnung sieht er anschließend, "dass sie meine Krankheitstage nicht bezahlt haben." Beschwerden bei der HR-Abteilung brachten nichts. Im Arbeitsvertrag mit dem W-Hotel steht, dass Krankheitstage tatsächlich erst nach drei Monaten Anstellung bezahlt werden. Mohammeds Vertrag läuft aber nur über drei Monate. "Das haben sie wirklich clever gemacht", sagt er.

"Wir sind einfach eine Masse an Arbeitern und werden als Individuen gar nicht wahrgenommen", fasst Mohammed zusammen. "Wir sind unsichtbar, unwichtig." Passenderweise wurden sie auch dort einquartiert, wo Katar das Leid der Arbeiter zentriert - und zu verstecken versucht. In der Industrial Area herrschen Armut, Lärm und Schmutz. "Selbst ich als Mann fühle mich hier total unsicher", gibt Mohammed zu, "die meisten Frauen gehen alleine gar nicht raus." Er weiß, dass die "Situation für die Bauarbeiter ungleich schlimmer" sein muss, wenn er schon so viel zu beklagen hat. "Das war eine richtig schlechte Erfahrung hier, und ich werde nicht noch mal nach Katar kommen", resümiert er. Julia und andere pflichten ihm bei.

Manch einer hat keine Chance und muss wiederkommen, weil er in Katar wenigstens einen Job findet. So etwa Samir, ein Taxifahrer aus Nepal. Er ist nun zum zweiten Mal im Emirat. Mit einem Heer aus Uber- und Careem-Fahrern sorgt er während der WM für die nötige Entlastung des Metro- und Bussystems. Gerade vor und nach Spielen sind die Bahnen in Doha zugestopft bis obenhin. Doch Samir kommt gerade so über die Runden, kann sich nur wenig zurücklegen. "Das meiste Geld, muss ich an die Firma abgeben", erzählt er gesprächig. Die Tochter des 28-Jährigen ist zehn Jahre alt. "Ich tue das hier alles nur für sie, damit sie eine bessere Zukunft hat."

Verschwunden unter den Gesichtslosen

Bei Samirs erstem Aufenthalt wird ihm von seinem damaligen Unternehmen sein Pass weggenommen. Zwei Jahre lang war er gefangen. Hatte keine Chance, das Land zu verlassen. Das Kafala-System, das Katar auf dem Papier abgeschafft hat, ist aber laut Menschenrechtsorganisationen in der Praxis längst nicht gestrichen. Immerhin: "Diesmal durfte ich den Pass behalten", sagt Samir erleichtert.

Zum Abschluss erkundigt er sich, wie es mit einem Visum für Europa aussieht. Das wäre sein großer Traum, dort will er LKW-Fahrer werden. Den Führerschein dafür hat Samir schon, aber er weiß genau, dass seine Chance minimal ist. Dann fährt er weiter. Und reiht sich wieder ein in der Armee der Gesichtslosen.

Quelle: ntv.de

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