"Degradierter" Stürmer als Herz Weltklasse-Idee mit Griezmann beflügelt Frankreich
15.12.2022, 08:40 Uhr
(Foto: IMAGO/SNA)
Die Karriere von Antoine Griezmann schien in einer Sackgasse zu enden. Doch bei der Fußball-Weltmeisterschaft erlebt der einst erfolgreiche Stürmer eine erstaunliche Renaissance - in völlig neuer Rolle. Mit dieser mochte er sich zunächst nicht anfreunden.
Der Stürmer Antoine Griezmann hatte gute Zeiten. Bei der Heim-Europameisterschaft vor sechs Jahren erzielte kein Fußballer mehr Tore als er. Und beim WM-Erfolg vor vier Jahren in Russland erledigte er seine Aufgabe als Topscorer des Turniers ebenfalls auf herausragende Weise. Man hätte nun also annehmen können, dass er auch in Katar eine prominente Rolle in der französischen Offensive übernehmen würde. Und ja, das tut er auch, aber anders, als man das von einem Mann erwarten würde, der 42 Mal (in 116 Spielen) für sein Land getroffen hat.
Griezmann ist in den Tagen von Katar so auffällig, so präsent wie lange nicht. Mit Wucht befreit er sich aus der Sackgasse seiner Karriere und schubst sich als Protagonist selbst zurück auf die Weltbühne. Beim Halbfinalsieg gegen Marokko (2:0) wurde der mittlerweile 31-Jährige zum Spieler des Spiels gewählt. Zwar steht noch immer kein Tor in seinem Pflichtenheft, aber das ist auch längst nicht mehr sein Auftrag. Griezmann ist der Entwickler und nicht mehr der Monteur. Als malochender Zehner oder kreativer Achter ist er das Herz der Mannschaft von Trainer Didier Deschamps. Er ist Laufwunder, Raumverdichter, Pressingmaschine. Ein bisschen so wie Thomas Müller zu seinen besten Zeiten - und doch irgendwie ganz anders.
Deschamps überrascht seinen Musterschüler
Der Plan, Griezmann aus der herausragend besetzten Offensive zurückzuziehen und ihn auf fremdem Terrain neu auszubilden, reifte offenbar bereits vor drei Jahren. Bei einem Abendessen in Island - Frankreich hatte dort einen schnöden Arbeitssieg gefeiert - soll Deschamps seinem Lieblingsschüler offenbart haben, dass er in ihm "einen sehr guten defensiven Mittelfeldspieler" sehe. Griezmann soll überrascht gewesen sein und nur müde gelächelt haben. Aber die Idee war kein Scherz, sie reifte und reifte und wuchs zur Weltklasse-Idee. Wenn Frankreich an diesem Sonntag gegen Argentinien um die Titelverteidigung kämpft, dann auch, mit und vor allem wegen Griezmann.
Kylian Mbappé hin, Olivier Giroud her - für den einstigen Stürmerstar Diego Forlán ist Griezmann "Frankreichs Schlüsselspieler", weil er Mittelfeld und Angriff "perfekt verbindet". So sieht das auch Deschamps, der sich schon jetzt für seinen nächsten Coup feiern lassen darf. "Antoine interpretiert seine Rolle sehr intelligent und schafft ein Gleichgewicht." Mit dem stürmenden Malocher (oder malochendem Stürmer) im Herzen hat sich Frankreich durch das Turnier laviert, nicht spektakulär - was die Summe der Einzelspieler versprechen könnte - sondern sehr effizient und sehr robust. Das bekamen auch die Marokkaner zu spüren, die, wie zuvor England im Viertelfinale, auf keinen Fall die schlechtere Mannschaft waren, sondern lediglich die weniger effektive.
Erzwungener Umbau vor der WM
So werden Titel- und Heldengeschichten geschrieben. Und in diesem Fall mit einem besonderen Protagonisten, den viele Experten und Fans längst abgeschrieben hatten. Im neuen System der Franzosen, das Deschamps unter anderem wegen der bitteren Ausfälle seiner Schlüsselspieler N'Golo Kanté und Paul Pogba von einem 3-4-1-2 auf 4-2-3-1 umstellen musste (oder wollte), gibt Griezmann einen hybriden Achter oder Zehner. Der kleine Mann von Atlético Madrid presst hoch und arbeitet nimmermüde gegen den Ball - ein Anführer, omnipräsent auf dem Platz, vom Gegner nicht einzufangen.
Nun ist es nicht so, als hätte sich Griezmann neu erfinden müssen. Die Fähigkeiten für seine Rolle im Herzen des Systems hat er bei den Rojiblancos gelernt. Im Sommer 2014 zieht es ihn nach Madrid, zu Diego Simeone, dem internationalen Zeremonienmeister knallharter, disziplinierter und bis zur Perfektion getriebener Abwehrarbeit. Vorbei ist's mit dem freigeistigen Herumlungern, mit dem Griezmann sich bei Real Sociedad San Sebastián einen guten Ruf erworben hat. Seine vermeintliche physische Unterlegenheit wurde im Baskenland zu einer echten Waffe. Sein Spiel spanisch intelligent, südamerikanisch - stark geprägt von mehreren Teamkollegen - hart. Und unter Simeone noch härter. Griezmann wird zum ersten Verteidiger geschliffen. Mit brutaler Power läuft er die Gegner an, hält den Pressingdruck permanent hoch und bleibt immer gefährlich. Simeone quält den einst im Jugendfußball nicht wertgeschätzten Schmachtlappen in die Weltklasse.
"Jede Aktion ist ein Dankeschön an ihn"
Die Dinge nehmen ihren Lauf: Griezmann wird besser und besser. Wichtiger und wichtiger und gewinnt 2018 den WM-Titel, damals ist er 150 Millionen Euro wert. Einen Sommer später zieht es ihn zum FC Barcelona - ein Plan, der nicht aufgeht, der krachend scheitert. Er flüchtet zurück zu Atlético, wo seine Spielzeit per Leihvertrag beschränkt wird. "Ich musste mich selbst klein machen", sagte er. Für Deschamps bleibt er groß. Griezmann steht in jedem (!) der jüngsten 72 Länderspiele auf dem Feld, seine neue Rolle akzeptiert er klaglos. "Ich gebe alles für das Trikot, für Frankreich - und für ihn", sagt er über Deschamps: "Jedes Spiel, jede Aktion ist ein Dankeschön an ihn."
Und so glänzt Griezmann mit den meisten gewonnenen Zweikämpfen und Balleroberungen (gegen Dänemark), mit der höchsten Laufdistanz (gegen Polen) oder den meisten Tackles (gegen England). "Ich verlange jetzt andere Dinge von ihm", sagt Deschamps, "aber es ist nicht so, dass wir ihn geopfert hätten." Griezmann legt drei Tore auf- mehr als jeder andere im Halbfinale vertretene Spieler. Mit seinen beiden Assists gegen England überflügelt er die französischen Rekordhalter Zinedine Zidane und Thierry Henry. Selbst getroffen hat er noch nicht. "Um das Tor mache ich mir keinen Kopf", sagt er selbstlos: "Die Mannschaft braucht mich im Herzen des Spiels."
Quelle: ntv.de, mit Material vom sid