Ergibt die Bundesliga noch Sinn? Das groteske Corona-Glücksspiel
06.01.2022, 20:06 Uhr
Gnabry (l.) war infiziert, Sané und Davies sind es aktuell. Und wird bei Davies Omikron nachgewiesen?
(Foto: picture alliance / Jens Niering)
Ist das noch Bundesliga oder schon Lotterie? Niemand weiß, was passiert, wenn an diesem Freitag die Rückserie mit dem Spiel FC Bayern gegen Borussia Mönchengladbach angepfiffen wird. Nur eins scheint klar: Nicht nur die Qualität wird entscheidend sein, sondern auch das Glück.
Die Zeiten, in denen ein Joshua Kimmich Aufgaben auf dem Fußballfeld übernehmen muss, die er eigentlich nicht übernehmen möchte, sollten doch eigentlich vorbei sein. Joshua Kimmich, darauf hatte sich eine ganze Nation (mit Ausnahme von Ex-Bundestrainer Joachim Löw) verständigt, ist ein Mann für das zentrale Mittelfeld. Dort hat er den besten Zugriff. Bei seinem Klub, dem FC Bayern, ist er in der Rolle des galligen Antreibers zum Unersetzlichen geworden. Wie sehr er fehlt, wenn er fehlt, haben die Münchner vor Wochen vor Weihnachten erlebt, als Kimmich entweder in Quarantäne oder mit Corona infiziert war. Nun, zum Start der Rückrunde ist er wieder da. Wie fit er ist, weiß niemand. Aber er wird dringender gebraucht denn je. Eben wegen Corona.
Das Virus wütet nämlich massiv beim Rekordmeister. Aktuell gelten oder galten sieben Spieler als infiziert. Darunter etwa Kapitän Manuel Neuer, die Innenverteidiger Dayot Upamecano und Lucas Hernández sowie Hinrunden-Star Leroy Sané. Mit Corentin Tolisso und Omar Richards haben sich zwei Spieler zwar vor dem Rückrundenstart freigetestet und mit Kingsley Coman könnte noch einer folgen, eine Option sind dann aber noch nicht. In München bleiben sie angesichts der Lage öffentlich recht entspannt, sie sind aber auch einigermaßen verzweifelt. Sie möchten den Auftakt in diese Rückrunde der Ungewissheit gerne verschieben. Daran ändert auch die komfortable Lage an der Spitze der Tabelle mit neun Punkten Vorsprung auf Borussia Dortmund nichts. Die Deutsche Fußball-Liga muss entscheiden. Und es ist gut, dass direkt am größten Klub des Landes Maß für den Rest der Liga genommen wird.
Lewandowski als Libero?
Gemäß der Statuten ist der FC Bayern noch spielfähig, könnte genug Spieler zusammenkratzen, um gegen Mönchengladbach anzutreten. Und Coach Julian Nagelsmann hat durchaus Lust, denn ihn plagen Revanche-Gelüste für die surreale 0:5-Klatsche im Pokal. Aber ist eine Revanche angesichts der Umstände gegen die in der Bundesliga zuletzt arg kriselnden Fußballer vom Niederrhein überhaupt möglich? Tja, tatsächlich hätten die Münchner (Stand jetzt) immer noch eine sehr, sehr gute Startelf beieinander. Robert Lewandowski wäre dabei, Thomas Müller, Jamal Musiala und Serge Gnabry auch. Benjamin Pavard kann spielen, ebenfalls Marc Roca, Marcel Sabitzer und der zuletzt angeschlagene Niklas Süle. Und mutmaßlich eben auch Kimmich. Aber wohin mit ihm? Wieder in die Abwehr? Dort klemmt es tatsächlich am gewaltigsten.
Kimmich kann Rechtsverteidiger spielen, auch wenn er das nicht unbedingt mag. Kimmich kann auch den Innenverteidiger geben. Diese verrückte Idee hatte einst Pep Guardiola. Und schlecht war sie ja nicht. Über die Pläne von Julian Nagelsmann weiß man noch nichts. Aber er wird arg improvisieren müssen, wenn die zweite Halbserie der Fußball-Bundesliga an diesem Freitagabend in der Allianz Arena wirklich angepfiffen wird. Ob ihm dabei wohl ebenso vogelwilde Dinge einfallen wie einst VfB-Coach Joachim Löw, der Fredi Bobic 1997 aus dem "Magischen Dreieck" der Stuttgarter herausriss, um ihn gegen Bayer Leverkusen als Libero aufzubieten?
Das Virus lauert überall
Ausschließen kann man nichts. Wegen Corona. Um die 40 Spieler aus der Bundesliga sind aktuell mit dem Virus infiziert. Keinen Klub hat es dabei in diesem Winter so hart getroffen wie den FC Bayern. Ob das einfach nur verdammt großes Pech ist oder ob manche Spieler einfach zu unvorsichtig waren, das lässt sich kaum beurteilen. Und ist der Sache nicht dienlich. Vorwürfe, dass die Fußballer in den vergangenen Wochen besser nicht rund um die Welt gejettet wären, um Urlaub zu machen, sondern besser daheim geblieben wären, sind ebenfalls einigermaßen absurd. Denn das Virus lauert eben überall. Und die Gefahr einer Infektion wird noch viel größer werden (auch wegen der offenbar deutlich ansteckenderen Mutante Omikron), wenn nun überall die Ferien zu Ende gehen, wenn die Kinder der Spieler in die Kita oder womöglich auch in die Schule gehen, wenn die Frauen ihren Jobs nachkommen.
Was für eine Blase müsste für die Vereine geschaffen werden, um das Risiko gen null zu fahren? Eine riesige, eine kaum zu stemmende. Physiotherapeuten, Betreuer, Busfahrer, sie alle müssten ja mit in diese isolierte Welt. Und so wird diese Rückrunde zur großen Show der Improvisation und zum noch größeren Glücksspiel. Selbst mit einer Impfquote von deutlich über 90 Prozent in den Vereinen. So wird für den Ausgang der Saison entscheidend werden, wer von Corona am wenigsten hart getroffen wird. Und zu welchem Zeitpunkt. Wütet das Virus bei einem Team im Abstiegskampf dann, wenn es gegen die Topteams geht, wo Sensationen eh wenig realistisch sind, oder wütet das Virus, wenn die direkten Duelle anstehen? Oder umgekehrt: Welche unterlegene Mannschaft profitiert womöglich von einem massiven Ausbruch beim Gegner? Die Borussia, die mittlerweile im Tabellenkeller steckt, könnte der erste Gewinner solcher Szenarien sein. Der Konkurrenz wird das nicht gefallen.
Und wie reagieren Klubs, wenn es plötzlich um die großen Entscheidungen geht? Um die Champions League, um die Europa League oder eben um den Ligaverbleib? Da mischen sich dann schnell auch wirtschaftliche Härten und Notwendigkeiten mit ein. Da geht es um Kader- und Zukunftsplanung. Und wie schnell werden Spieler nach einer Infektion dann wieder eingesetzt? Klar, auch große Verletzungsmiseren hat es immer gegeben. Aber die Pandemie ist (immer noch) eine neue Dimension. Sie macht nichts planbar. Aber die Show muss es eben geben.
Die neue Absurdität
Wie absurd die Ausmaße sein können, das zeigt der Blick in die anderen Ligen. In der italienischen Serie A kommt es zum Streit zwischen Liga, Vereinen und Gesundheitsämtern. Während die Liga Partien auf Wunsch der Klubs mit großem Ausbruchsgeschehen nicht absagen wollte, stellten die Behörden ganze Teams fortan einfach unter Quarantäne. Schlussendlich wurde die Spiele in letzter Sekunde doch abgesagt. In Portugal musste Belenenses Lissabon vor wenigen Wochen mit neun Mann antreten. Alle andere Spieler waren infiziert oder in Quarantäne. Als kurz nach der Pause nur noch sechs Fußballer auf das Feld waren, wurde die Partie schließlich abgebrochen. Was für eine Groteske. Auch der französische Traditionsklub Girondins Bordeaux wurde kürzlich von den Regeln in eine Fußball-Absurdität gezwungen. Obwohl es 21 Corona-Fälle (!) im Kader gab, wurde das Pokalspiel gegen Brest ausgetragen und verloren (0:3).
Die englische Premier League ist völlig außer Kontrolle. Das lässt sich auch für die NBA, NFL und NHL sagen. Bei Manchester City, dem Tabellenführer, gibt es derzeit 21 Verdachtsfälle, darunter auch Coach Josep Guardiola. Spiele werden am Fließband abgesagt, Mannschaften stellen Kader zusammen, die einzig dem Zweck dienen, irgendwie spielfähig zu sein. Qualität ist nicht mehr das entscheidende Kriterium. Nun gibt es aber einen riesigen Unterschied zwischen Premier League und Bundesliga: Auf der Insel ist die Bereitschaft der Spieler, sich impfen zu lassen, sehr viel geringer als hier. Als Argument für einen sicheren Spielbetrieb in Deutschland taugt das aber nicht.

Albas Luka Sima (m.) gegen zwei Würzburger bei einem möglichen Superspreader-Event.
(Foto: picture alliance / Andreas Gora)
Die Basketball-Bundesliga meldete zum Saisonstart eine Impfquote von fast 100 Prozent, auch die Deutsche Eishockey-Liga verwies auf eine äußerst hohe Bereitschaft und baute eventuellen Spiel-Ausfällen mit einem Punktschnittsystem in der Tabelle vor. Und nun? Nun herrscht Chaos. Das letzte BBL-Spiel des vergangenen Jahres zwischen Alba Berlin und S.Oliver Würzburg scheint zu einem Superspreader-Event geworden zu sein. Die Gäste aus Bayern melden mittlerweile 13 positive Tests und auch die Berliner haben 11 positive Befunde im Team sowie im Trainer- und Betreuerstab. Ihr Spiel bei den Löwen Braunschweig wurde verschoben.
Ab in den Omikron-Nebel
Noch krasser geht es aktuell in der DEL zu, die Iserlohn Roosters haben am 4. Januar 25 Corona-Fälle im Team gemeldet und sind entsprechend nicht mehr spielfähig. Der Teamarzt warnt wegen der Inkubationszeit davor, dass die Zahl der positiven Tests noch steigen könnte. Immerhin scheint es bislang keine schweren Verläufe bei den Infizierten zu geben. Aber die Spieler (und natürlich auch Trainer und Betreuer) fallen eben aus. Und das meistens zwei Wochen oder länger.
Aber es gilt: Wer spielfähig ist, muss antreten. Aber was bedeutet in der Fußball-Bundesliga nun eigentlich spielfähig? Auch gesperrte oder verletzte Spieler sind nach DFL-Regularien spielfähig. Die Klubs hatten sich vor der Saison darauf geeinigt, dass Spiele ausgerichtet werden, wenn "mindestens 15 spielberechtigte Lizenzspieler und/oder in der Lizenzmannschaft spielberechtigte Amateure/Vertragsspieler zur Verfügung stehen." Beim eher dünnen Profi-Aufgebot des FC Bayern führt das nun dazu, dass neben Top-Talenten aus der zweiten Mannschaft (die spielt in der Regionalliga) auch die U17-Juniorennationalspieler Arijon Ibrahimovic und Paul Wanner von einem DFB-Lehrgang in Spanien abgezogen werden, um den Spieltagskader gegen Gladbach zu ergänzen.
Ist das alles noch Wettbewerb oder schon Lotterie? Bislang wurde im Fußball-Oberhaus in dieser Saison noch kein Spiel abgesagt und neu angesetzt. Viel Platz herrscht im Terminkalender aber auch nicht. Immerhin: Für das anstehende Frühjahr gibt es von mehreren Experten ganz vorsichtig optimistische Ansagen zum Pandemie-Geschehen. Bis dahin aber wird nicht nur die Bundesliga zu einem grotesken Glücksspiel.
Quelle: ntv.de