Die DFB-Pleite im Schnellcheck Drei Rückschläge pulverisieren eine spannende Idee
19.11.2023, 00:06 Uhr
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft verliert beim Auswärtsspiel im eigenen Stadion gegen die Türkei. Altbekannte Probleme werden mit neuen Lösungsideen bekämpft. Das gelingt nicht ausreichend.
Was ist da im Berliner Olympiastadion eigentlich passiert?
Auswärtsspiel in der eigenen Hauptstadt: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hatte sich die türkische zum Testspiel eingeladen, um den nächsten Schritt auf dem Weg aus der lähmenden Konfusion der Ära Flick hin zu einem endlich mal wieder nicht desolaten Großturnier zu machen. Das Olympiastadion, wo im Juli 2024 das Finale der Heim-Europameisterschaft stattfindet, war nicht die Kulisse für ein herbstliches deutsches Fußballmärchen.
Die Türkei, die gerade erst die Qualifikation für die EM klargemacht und eine verstärkte B-Elf auf den Rasen geschickt hatte, zeigte dem DFB-Team beim 3:2-Sieg mal wieder altbekannte Schwächen auf: Die bestenfalls bedingte Abwehrbereitschaft bekommt auch Julian Nagelsmann nicht in den Griff. Und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft kommt weiter einfach nicht nachhaltig auf die Beine.
Der Bundestrainer, der auf der USA-Reise schon für ganz zarte Aufbruchstimmung gesorgt hatte, fand in seinem ersten Länderspiel auf deutschem Boden auch nicht die Lösung fürs neue deutsche Lieblingsproblem: Die Abwehr lässt weiter viel zu viel zu, bisweilen absurd viel für ein Ensemble, das immerhin vom Abwehr-Titanen von Real Madrid, Antonio Rüdiger, angeführt wird.
Gegen spielfreudige, aber keinesfalls brillante Türken ließ sich das deutsche Defensivkonstrukt bei den beiden Gegentoren in der ersten Hälfte schlicht übertölpeln, zu oft gelang unter Druck kein dem eigenen Spiel dienlicher Aufbau aus der letzten Reihe. Und das sind schlechte Nachrichten, hatte Nagelsmann doch angekündigt, dass die Defensive im Fokus seiner lebenserhaltenden Maßnahmen stehen würde, mit denen man ihn beim DFB betraut hatte.
Mit der Nominierung von Edeltechniker Kai Havertz als Linksverteidiger bewies Nagelsmann viel Fantasie und den Willen, kreative Lösungen für Probleme zu finden, an denen seine Vorgänger schon gescheitert werden. Nun aber fehlt erstmal die Fantasie, wie man das wackelige Konstrukt, das spätestens im kommenden Sommer stabil abliefern soll, wenigstens einigermaßen robust aufstellen kann.
Teams & Tore:
Deutschland: Trapp - Henrichs, Tah, Rüdiger, Havertz - Kimmich (71. Goretzka), Gündogan - Wirtz (71. Gnabry), Brandt (82. Duksch) - Sané, Füllkrug
Türkei: Bayindir - Celik, Kabak, Bardakci, Kadioglu (63. Elmali) - Yüksek (46. Özcan), Akbaba (34. Ömür), Ayhan, Yazici (63. Yilmaz/ 71. Aktürkoglu), Irfan Can (63. Sari) - Yildiz
Tore: 1:0 Havertz (5.), 1:1 Kadioglu (38.), 1:2 Yildiz (45.+2), 2:2 Füllkrug (49.), 2:3 Sari (71./Handelfmeter)
Gelbe Karten: - Kabak, Irfan Can, Ömür, Bardakci
Schiedsrichter: Bartosz Frankowski (Polen)
Zuschauer: 72.592 (in Berlin)
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Was war gut?
In den ersten Minuten Leroy Sané und Gündogan. Danach eigentlich nur noch konstant Florian Wirtz. Dessen Sicherheit und Klugheit am Ball und im Zusammenspiel mit den Kollegen trugen das deutsche Offensivspiel. Seine aufdrehenden Bewegungen sorgten immer wieder für Gefahr, seine Pässe sorgten für Tiefe und Tempo. Genauso, wie sich Nagelsmann das wünscht. Ein genialer Spielpartner für den Leverkusener ist Sané. Ein anderer wird Jamal Musiala werden, wenn der nach seiner Verletzung fit wird. Bislang agierten die beiden größten Talente des DFB meist aneinander vorbei.
Während der USA-Reise schien der neue Bundestrainer erstmals eine Idee gefunden zu haben, wie sich die Top-Qualität der Youngster zu einer Top-Qualität für die Mannschaft transformieren lässt. Der wichtige Anker hinter den wirbelnden Offensiven soll Gündogan sein. Wie das aussehen kann, zeigte der Kapitän in den ersten 25 Minuten. Da war er im ersten Spiel gegen das Heimatland seiner Eltern omnipräsent. Gegen die Pfiffe von den Rängen befreite er sich aus kleinsten Räumen und dirigierte seine Kollegen aus der Bedrängnis oder eben in gute Offensivaktionen.
Was war schlecht?
Was im deutschen Fußball gerade ein Problem ist, das wird im Prinzip täglich neu verhandelt. Mal ist es die Offensive, wo die Suche nach einem Stürmer nun sogar Marvin Ducksch von Werder Bremen im höheren Alter von 29 Jahren erstmals ins DFB-Team gespült hatte, und mal ist es die Defensive, die vor allem von der Suche nach guten Außenverteidigern flankiert wird.
Die Defensive war vom Bundestrainer zum Jahresabschluss mit Priorität auf die Agenda gehoben worden. Mehr Stabilität soll her. Denn noch immer besitzt der nicht zu widerlegende Spruch Gültigkeit, dass Titel nur mit guter Abwehrarbeit gewonnen werden. Fazit zur Halbzeit es Länderspiel-Doppelpacks: Auf einem stabilen Fundament steht die Nationalmannschaft (noch) nicht. 20 Minuten sah es solide aus, weil das eigene Pressing gut funktionierte und die zusammengewürfelte Mannschaft der Türken noch auf der Suche nach Laufwegen und einem guten Verständnis war.
Dann aber ging’s los. Vor allem für die rechte Seite. Dort verweigerte Leroy Sané ein ums andere Mal die Defensivarbeit. Bisweilen stand er lustlos an der Seite und reagierte erst dann, als es zu spät war. So auch beim Ausgleich durch den sehr auffälligen Ferdi Kadioglu. Das Zusammenwirken zwischen Sané als Schienenspieler und Benjamin Henrichs als rechtem Mann in der Kette war, um es wohlwollend auszudrücken, ausbaufähig. Henrichs kam beim zweiten Gegentor durch das ehemalige und extrem spielfreudige Bayern-Talent Kenan Yildiz zu spät. Der 18-Jährige nagelte den Ball mit einer beeindruckenden Überzeugung über Pfosten und Latte ins deutsche Tor.
Auf der andere Seite war es mit Antonio Rüdiger und dem Überraschungs-Linksverteidiger Kai Havertz nur wenig besser. Allerdings bekam die letzte Kette nur wenig Entlastung aus dem Mittelfeld, wo Gündogan stark anfing, aber immer mehr abtauchte. Und wo Kimmich gegen die griffigen Türken nicht immer der Chef sein konnte, der er sein möchte und sein soll.
Hat Julian Nagelsmann eigentlich den Verstand verloren?
Deutschland fehlen die Stürmer, dieses Problem wurde in den vergangenen Jahren, im Grunde seit dem Abschied von WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose, diskutiert. Dabei wurde lange ein bisschen beiseite geschoben, dass Deutschland auch die Außenverteidiger fehlen. Im Grunde seit dem Abschied von Weltmeister-Kapitän Philipp Lahm. Die Versetzung von Joshua Kimmich in die Mittelfeldzentrale hat das Problem nicht eben verkleinert. Joachim Löw begleitete die Problematik bis zum bitteren letzten Tag seiner Ära als Bundestrainer, als während der EM 2021 diskutiert wurde, ob Kimmich wieder den Lahm geben solle, oder nicht. Hansi Flick wiederum würfelte seine Abwehr einfach immer wieder komplett durcheinander.
Und nun will Julian Nagelsmann die goldene Idee gehabt haben: Gegen die Türkei machte er in seinem dritten Länderspiel als Bundestrainer Stürmer Kai Havertz zum Linksverteidiger. Ohne jede Vorwarnung. Eine völlig verrückte Idee oder gar pure Verzweiflung? "Eine große Fantasie" habe er bei Kai Havertz, sagte Julian Nagelsmann vor dem Spiel bei RTL. Er habe "das volle Vertrauen in den Weltklassespieler" Havertz, der offensiv zuletzt sowohl im DFB-Team als auch bei seinem Klub Arsenal London zu oft glücklos agierte. Nun hat der Bundestrainer eine neue Position für den 24-Jährigen erfunden. Bei türkischem Ballbesitz gab er den Linksverteidiger, bei deutschem hatte er sich aus der Kette zu lösen.
Natürlich ist Nagelsmann nicht verrückt geworden, Havertz hat über die Jahre valide Argumente dafür geliefert, bei internationalen Topmannschaften auf dem Platz zu stehen. Ob das künftig vielleicht sogar öfter als Linksverteidiger sein wird, darüber lieferte das Spiel keine belastbaren Erkenntnisse: Die Türken nahmen eher die bisweilen konfuse rechte Abwehrseite der Deutschen ins Visier, seinen Auftrag erfüllte der verteidigende Stürmer Havertz ohne Ausfälle.
Wie wars im Stadion?
Es war das erwartete Auswärtsspiel der DFB-Elf im Finalstadion der Heim-EM 2024. Bis auf die Ostkurve, die im Ligabetrieb von den Fans von Hertha BSC gefüllt wird, war das Olympiastadion komplett in türkischer Hand. Hin und wieder gesellten sich in den meisten Bereichen zwar die deutschen Flaggen zu den türkischen. Doch es waren nur Farbsprengsel. Das Team von Julian Nagelsmann wurde bereits beim Aufwärmen von einem gellenden Pfeifkonzert begrüßt. Aber viel mehr interessierte die weit über 40.000 Fans der "Bizim Cocuklar" natürlich die eigene Mannschaft.
Die ekstatische Lautstärke der Stadien der Süper Lig erreichten sie dabei nicht. Was vielleicht auch an der Beschallung von DJ Teddy-O lag, der seine Platten am Spielfeldrand drehte und alles übertönte. Als DJ Teddy-O keine Musik mehr hatte, wurde die Mannschaftsaufstellung verlesen. Bei der Nummer 21 der DFB-Elf, dem Kapitän Ilkay Gündogan, steigerten sich die Pfiffe und Buh-Rufe noch einmal. Er ist der, der sich gegen das Land seiner Eltern entschieden hat.
Vor dem Stadion wurde noch kurz vor Anpfiff der Partie vereinzelte Schwarzmarktickets angeboten. Das ausverkaufte Stadion selbst füllte sich langsam, war auch zu Spielbeginn noch lange nicht bis auf den letzten Platz belegt. Die Hymnen erklangen, die türkischen Nationalspieler hültten ihre Trainingsjacken über die Einlaufkinder, die deutschen nicht. Nur Niclas Füllkrug probierte es, es gelang ihm nicht. Dass Stadion rief "Türkiye" und schon konnte es beginnen. Der 37-jährige Pole Bartosz Frankowski, dem die Spielleitung übertragen worden war, pfiff und das Stadion jubelte bei jedem Ballverlust der DFB-Elf. Es war eben das erwartete Auswärtsspiel.
Die Stimmen zum Spiel:
Julian Nagelsmann (Bundestrainer): "Die Emotionalität hatten wir nicht auf allen Positionen. Ein paar haben es sehr gut gemacht, aber einige haben nicht das Emotionalitätsniveau erreicht, um an ihre Grenzen zu gehen", sagte Julian Nagelsmann bei RTL. Vor allem die schwache Phase von der 25. Minute bis zur Pause missfiel dem Bundestrainer sehr. "In der zweiten Halbzeit haben wir es besser gemacht", sagte Nagelsmann. Der 36-Jährige bedauerte, dass sein Team nach dem frühen 1:0 durch Kai Havertz weitere Chancen ungenutzt ließ. "Wir müssen das Spiel früher zumachen", sagte Nagelsmann. "Kai Havertz hat ein herausragendes Spiel gemacht. Die einzige Personalie, die heute überraschend war, war mit unser bester Mann."
Ilkay Gündogan (DFB-Kapitän): "Wir wurden zu lethargisch. Ich weiß nicht, ob wir dachten, dass es von allein schon wird. Wir sind gut ins Spiel reingekommen, dann waren wir nicht mehr zielstrebig genug. Gegen den Ball war es nicht mehr der Druck, den wir eigentlich erzeugen wollten. Wir waren nicht aggressiv genug. Sie machen ihre Tore nach Fehlern von uns. Dann ist es immer schwer, egal gegen wen noch zurückzukommen. Ich weiß nicht, ob lethargisch das richtige Wort ist, aber einfach zu passiv. Wir kommen gut rein, dann ist das Selbstvertrauen eigentlich noch größer. Dann haben wir wohl erwartet, dass es von allein wird. Am Ende waren wir immer einen Schritt weiter weg, gerade in der ersten Halbzeit. Es fühlt es sich so an, als wenn wir das Spiel heute in der ersten Halbzeit verloren haben."
Quelle: ntv.de