Bayern-Zäsur, Hoeneß, Plan D Tuchels aufwühlende Zeit endet als wütendes Drama
09.05.2024, 07:07 Uhr
Das war's: Thomas Tuchels Zeit beim FC Bayern endet mit einer titellosen Saison.
(Foto: IMAGO/Guillermo Martinez)
Der FC Bayern beendet die Saison 2023/24 ohne Titel: Die letzte Chance endet in einem wütenden Drama. Bei Real Madrid sieht es lange gut aus, dann wird es wild: Neuer patzt, der Schiedsrichter sorgt für Ärger. In München stehen nun große Veränderungen an.
Die Verzweiflung bei Thomas Tuchel war groß, sie war riesig, sie war gigantisch. Bei Real Madrid wollte der in wenigen Tagen scheidende Trainer des FC Bayern das nächste kleine Champions-League-Wunder stemmen, er warf alles auf den Platz, schnupperte lange am Finale in Wembley, an seiner letzten Titelchance mit München, ausgerechnet gegen seinen Ex-Klub Borussia Dortmund. Dann schlug das Schicksal brutal zu. Ein Offensivspieler nach dem anderen musste die Segel streichen. Schmerzen hier, Schmerzen dort. Der alles überragende Keeper Manuel Neuer patzte fatal, Aleksandar Pavlovic hatte einen Krampf und der Schiedsrichter machte einen Fehler.
Nach 104 Minuten voller Kampf und Drama schieden die Münchner im zweiten Halbfinale aus. Der ehemalige Bundesliga-Stürmer Joselu hatte das Spiel binnen vier Minuten gedreht (88./90.+2), hatte auf 2:1 gestellt. Das reichte zum Weiterkommen, weil das Hinspiel in der Allianz-Arena mit 2:2 geendet hatte. Zuvor hatte Alphonso Davies, um den es seit Monaten Wechselgerüchte zu Real gibt, ein wunderbares Tor erzielt und den Traum von Wembley für den FC Bayern mit Leben gefüllt. Aber das reichte nicht, weil Real eben Real ist. Weil "Real nie stirbt". So hatte es Tuchel vor dem Spiel geahnt und recht behalten. Erstmals seit 2012 beenden die Bayern eine Saison ohne Titel. Und dem Coach, um den es niemals ruhig geworden war, der den Klub mit seinen Kader-Klagen und seiner öffentlich zur Schau getragenen Ratlosigkeit und Kritik nach unerklärlichen Pleiten an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, bleibt der triumphale Abgang von der Säbener Straße verwehrt.
Madrid: Lunin - Carvajal, Rüdiger, Nacho, Mendy - Tchouameni (69. Camavinga), Kroos (69. Modric) - Valverde (81. Joselu), Bellingham, (90.+10 Militao) Rodrygo (81. Diaz) - Vinicius; Trainer: Ancelotti
München: Neuer - Kimmich, Dier, de Ligt, Mazraoui - Pavlovic, Laimer - Sané (76. Kim), Musiala (85. Müller), Gnabry (27. Davies) - Kane (85. Choupo-Moting); Trainer: Tuchel
Schiedsrichter: Szymon Marciniak (Polen)
Tore: 0:1 Davies (68.), 1:1 Joselu (88.), 2:1 Joselu (90.+2)
Gelbe Karten: Camavinga -
Zuschauer: 80.000 (ausverkauft)
Im Interview bei DAZN stand der Trainer mit gläsernem Blick, ob es tatsächlich Tränen waren, wie die "Bild"-Zeitung mutmaßt, lässt sich nicht überprüfen. Aber der 50-Jährige war fix und fertig. Das war wahrlich nicht zu übersehen. Im legendären Estadio Santiago Bernabéu endet seine Zeit. Ja, es sind noch zwei Bundesliga-Spiele zu gehen, aber die haben für die Münchner keinen Wert mehr. Die Saison endet ohne Titel. Und das ist nur ein Übel, mit dem sich der Klub herumplagt. Wer Nachfolger von Tuchel wird, ist immer noch nicht klar. Hansi Flick soll der Topkandidat sein. Aber wer war ja nicht alles schon Topkandidat gewesen? Mittlerweile ist man bei einem Plan D, E oder F angekommen. Und dann ist da noch der Kader, der einem größeren Umbau unterzogen werden soll. Sportvorstand Max Eberl, seit dem 1. März im Amt, wollte die Zeit bis Sommer nutzen, um zu schauen, wer das "Mia san mia" in sich trägt, wer Bayern-like ist.
Ganz viele offene Kaderfragen
An Gerüchten mangelt es seit Monaten nicht. Was wird aus Joshua Kimmich, der zuletzt starke Leistungen als Rechtsverteidiger gezeigt hatte, in Madrid nun aber große Probleme mit dem pfeilschnellen und trickreichen Vinicius Junior hatte? Was wird aus Leon Goretzka, der gegen Real gar nicht mehr zum Einsatz kam? Auch über dessen Zukunft war reichlich spekuliert worden. In der Diskussion um einen möglichen Abgang waren auch der ewige Pechvogel Serge Gnabry, der am Mittwochabend früh verletzt wieder ausgewechselt werden muss, Leroy Sané, Kingsley Coman und Davies. Auch in der Innenverteidigung bleiben Fragen: Setzt der neue Coach weiter auf Winterneuzugang Eric Dier, der unter Tuchel überraschend zum Abwehrchef aufgestiegen war? Was wird aus Min-jae-Kim, der bisher ein Abwehr-"Monsterchen" und noch kein Abwehr-"Monster" war. Und wie geht es mit dem so begabten Dayot Upamecano weiter, der immer wieder dicke Fehler einstreut? Bei all den ungelösten Kaderfragen setzte sich, so heißt es in mehreren Medien, die Erkenntnis bei den Bossen durch, dass Tuchel mit seiner Kritik in Teilen recht habe. Dass der Kader offenbar dringender als gedacht Auffrischungen braucht.
All das muss Tuchel nicht mehr interessieren. Er wird weiterziehen. Womöglich zu Manchester United, zurück auf die Insel, wo er sich am wohlsten fühlt, wo er mehr Anerkennung spürt. Jene Anerkennung, die ihm in München in den vergangenen Wochen widerfahren war. Tausende Fans hatten sich via Online-Petition dafür starkgemacht, dass er Trainer bleibt, dass die Vereinbarung von Mitte Februar zur Trennung am Saisonende gekippt wird. Aber nein, Stand jetzt, kommt ein neuer Mann. In Madrid, nach dem Drama und vor dem Interview, riefen die Fans von den Tribünen seinen Namen. Ein kleiner, ganz kleiner Trost nach diesem so bitteren Abend.
Wären die Münchner ohne die Szene in der 103. Minute ausgeschieden. Sie wären verzweifelt und enttäuscht gewesen. Aber sicher nicht wütend. Sportlich gibt es Gründe, dass man nach Hin- und Rückspiel ausgeschieden ist. In München waren die Münchner einen Hauch besser gewesen, verpassten aber den Sieg, weil sie zu viele Chancen ungenutzt ließen. In Madrid waren die Madrilenen besser. Und eben eiskalt. Als Neuer der Ball nach einem eher harmlosen Schuss aus den Händen geflutscht war, stand Joselu dort, wo ein Torjäger stehen muss und drückte das Spielgerät über die Linie (88.). Wenig später tat er das erneut, wieder in bester Mittelstürmer-Manier (90.+2). Der Mann, der einst in der Bundesliga für die TSG Hoffenheim, für Eintracht Frankfurt und Hannover 96 gespielt hatte, hat die Gier der "Königlichen", die einst seine erste Profistation waren, in sich aufgesaugt. Real stirbt eben nie.
Für den FC Bayern gab es dagegen ein paar traurige 1999er-Vibes. Vor 25 Jahren kollabierte die Mannschaft schon einmal in Spanien, im Camp Nou in Barcelona, in den letzten Minuten, damals im Final-Drama gegen Manchester United. In der Nachspielzeit trafen Teddy Sheringham und Ole Gunnar Solskjaer (er wurde übrigens auch mal als Tuchels Nachfolger reingeworfen) ganz tief ins Herz der Münchner.
"Nicht der Moment für Entschuldigungen, ehrlich nicht"
Im Finale trifft Joselu, das ist eine durchaus lustige Geschichte, auf Niclas Füllkrug. Der kam zu Hannover, als der Spanier im Sommer 2015 zu Stoke City weitergezogen war. Füllkrug spielt mittlerweile beim BVB, und hatte mit seinem Tor im Hinspiel gegen Paris St. Germain den Weg nach Wembley geebnet. Die Dortmunder hatten dabei unerhörtes Glück mit Pfosten und Latte. Ebendieses Glück, nur mit dem Schiedsrichter, hatten die Bayern nun nicht. Und sie haderten und haderten. Vor allem Tuchel, der sich auch bei der Medienrunde spät in der Nacht nicht beruhigen konnte. Szymon Marciniak hatte die Szene vor dem 2:2-Ausgleich von Matthijs de Ligt in der 13. Spielminute der Nachspielzeit wegen einer vermeintlichen Abseitsposition zu früh abgepfiffen. So konnte die Szene nicht per Videobeweis überprüft werden. Der Schiedsrichter, einer der Besten, entschuldigte sich dafür.
"Natürlich nehmen wir die Entschuldigung als Sportsmänner an. Aber es ist ein Halbfinale, es ist nicht der Moment für Entschuldigungen, ehrlich nicht", sagte Tuchel und redete sich in Rage. "Es ist nicht der Moment für so krasse Video-Verstöße. Alle müssen ans Limit, alle müssen leiden, alle müssen fehlerfrei spielen. Da müssen halt die Schiedsrichter auf diesem Niveau das auch tun. Das hilft halt nicht, wenn du nachher Entschuldigung sagst. Dafür bist du auf dem Feld, dafür bist du der Beste, den es da draußen gibt. Und wenn du das nicht liefern kannst, hilft das nicht." Sportvorstand Eberl war ebenfalls außer sich und nah dran, eine Verschwörung zu wittern: "Höchst kurios und dubios. Der Schiedsrichter hat gesagt, es war sein Fehler. Davon können wir uns einen Scheißdreck kaufen! Wir waren alle für ein deutsches Finale. Alle, außer die polnischen Schiedsrichter!" Tuchel, einfach nicht zu beruhigen, legte später nach: "Das ist nicht mehr grenzwertig, das ist mutwillig!"
In den 103 Minuten bis zum "Skandal" ("Bild"-Zeitung), bis zum "absoluten Desaster" (Tuchel) hatte Real indes alles getan, um ins Finale einzuziehen. Trainer Carlo Ancelotti, einst in München bitter gescheitert, kämpft damit bereits um seinen fünften Henkelpott. Der ballsichere, aber dieses Mal nicht so auffällige Toni Kroos und seine Mitspieler setzten früh auf Dominanz und Kontrolle. Nach 13 Minuten scheiterten Vinicius Junior und Rodrygo am herausragenden Neuer. Der lenkte den ersten Schuss an den Pfosten und fing den zweiten. Kurz vor der Pause fischte sich der Keeper den nächsten Knaller von Vinicus Junior. Die Bayern hatten bis dahin viel gelitten und am Ball wenig Ideen. Harry Kane sorgte mit einer Volley-Abnahme aus großer Distanz für Gefahr (28.).
"Nichts, was ich sage, kann das irgendwie lindern"
Auf den Tribünen schaute Ex-Bayern-Boss Oliver Kahn zu und gönnte sich ein Bier. Ob er ein gern gesehener Gast war? In München hatten sie, in Person von Uli Hoeneß, wiederholt betont, was für ein Fehler die Inthronisierung des ehemaligen Titans gewesen war. Bis heute lecken sie die Wunden dieser Zeit. Wohl auch ein Grund, warum sich Hoeneß weiter stark einmischt, und ankündigt hat, dieses noch stärker wieder tun zu wollen. Zuletzt hatte er bereits fulminant ausgeholt, Tuchel gegen sich aufgebracht (Talententwicklung ist das Stichwort) und den Top-Kandidaten Ralf Rangnick nur als "dritte Wahl" bei der Trainersuche bezeichnet. Hoeneß bleibt der Wächter des FC Bayern, seines FC Bayern. Der Umbau des Klubs, die angestrebte Rückkehr an die nationale und internationale Spitze, die wird nicht ohne sein Wirken passieren. Das muss jedem gewiss sein, auch dem neuen Coach.
Der (neue Coach) soll eine dauerhafte Lösung sein, kein Steigbügelhalter für einen Jürgen Klopp oder eine Rückkehr von Pep Guardiola. Zumal niemand weiß, ob es dazu je kommen würde. Und auch kein Kompromiss wie einst Niko Kovač, der übernahm, weil Jupp Heynckes Wort gehalten und seine lange Karriere beendet hatte, was beim FC Bayern ausgeblendet worden war. Der neue Mann soll eine Spielidee implementieren, die die alte Dominanz zurückbringt. Wie es einst Feierbiest Louis van Gaal geschafft hatte. Nur nachhaltiger soll die Zeit bitte werden. Der FC Bayern ist zu einem Trainerfresser geworden, Top-Leute wurden verschlissen oder stolperten über die Machtgefüge im Klub.
Nach der Pause ging es weiter mit Furor von Vincius Junior. Vorarbeit für Rodrygo, Parade von Neuer. Dann Schuss von ihm selbst, wieder war Neuer da. Dann traf Davies nach einem feinen Solo wunderbar ins Eck. Bayern blinkte links und raste auf der "Road to Wembley". Unaufhaltsam? Nein. Das 1:1 nach gut 70 Minuten wurde einkassiert. Vor dem Eigentor durch Davies gab es ein Foul von Nacho an Kimmich. Harry Kane ließ das mögliche 2:0 liegen, schoss ans Außennetz. Dann patzte Neuer, dann traf Joselu doppelt, dann unterbrach der Schiedsrichter die Ausgleichsszene. Tuchel tobte an der Seite. "Wir waren schon fast durch, es war ein voller Fight. Nichts, was ich sage, kann das irgendwie lindern." Seine Zeit endet - als ganz großes Drama.
Quelle: ntv.de