Fußball

Riese legt sich erstmal schlafen Hertha BSC verabschiedet sich vom modernen Fußball

Drescher (r.) und Noske beschreiten den "Berliner Weg".

Drescher (r.) und Noske beschreiten den "Berliner Weg".

(Foto: IMAGO/mix1)

Bei Hertha BSC fühlen sich Jahre wie Jahrzehnte an. Der Klub ist lange Zeit warnendes Beispiel dafür, wie zu viel Geld alles zerstören kann. Wie der moderne Fußball einen Klub zerstört. Als Hertha sich aus den Trümmern erhebt, stirbt der Präsident. Sein nun gewählter Nachfolger steht für Ruhe und Abschied.

Hertha BSC hat sich entschieden: Schluss mit den leeren Versprechen. Schluss mit den Investoren. Schluss mit der Show. Der Hauptstadtklub errichtet eine Wagenburg. Nach chaotischen, dramatischen und tragischen Jahren schließt der 11. der 2. Fußball-Bundesliga die Reihen. Die Mitglieder haben Investoren satt. Der Verein soll einfach nur gesunden. Ohne Luftschlösser. Aus sich heraus. Nur der Wirklichkeit verpflichtet. Dafür stand die mehr als zehnstündige Mitgliederversammlung im City Cube im Berliner Westend. Diese war zwar voller Absurditäten, doch niemand ließ sich von den Kunststücken der Bewerber ablenken.

Der neue Präsident, Fabian Drescher, hatte dann auch Tränen in den Augen. Der einst größenwahnsinnige Klub ist wieder ein normaler Verein. Das war das Zeichen dieser Wahl, bei der Drescher über 80 Prozent aller Stimmen einsammeln konnte und die zukünftige Vize-Präsidentin Anne Noske ebenfalls fast 80 Prozent erhalten hatte. Noske war die Wunschkandidatin von Drescher. In Berlin ist Fußball längst nicht mehr nur Männersache. Noske erinnerte sich in ihrer Rede an alte Hertha-Helden wie Alex Alves und sprach mit Stolz vom Frauenfußball, einem neuen Aushängeschild des Klubs.

Das spannendste Experiment im deutschen Fußball

Hertha, das hätte ja kaum jemand je gedacht, boomt. Der Klub hat seit der Wahl von Kay Bernstein im Jahr 2022 über 17.000 neue Mitglieder begrüßen können. Mittlerweile sind es 58.147, immer noch viel weniger als die Zahlen der Giganten FC Bayern München, Borussia Dortmund oder auch FC Schalke 04. Aber es werden immer mehr. Und die, die jetzt kommen, werden Teil eines der spannendsten Experimente im deutschen Fußball. Ein Fußball-Riese legt sich schlafen, um irgendwann einmal aufzuwachen. Doch nicht jetzt. Die Erschöpfung ist zu groß.

Herthinho hat viele Freunde.

Herthinho hat viele Freunde.

(Foto: IMAGO/Nordphoto)

Die finanziellen Probleme sind es auch noch. Im nächsten Jahr muss eine 40-Millionen-Anleihe zurückgezahlt werden, im abgelaufenen Jahr wies Hertha einen Konzern-Jahresfehlbetrag von 33,3 Millionen Euro aus. Es gibt einfachere Umfelder. Auch wenn es im modernen Fußball nicht die Aufgabe eines Präsidenten, sondern die des Geschäftsführers der ausgegliederten Profi-Fußball-Abteilung ist. Der heißt Tom Herrich, ist seit 2005 bei Hertha, seit 2009 in der Geschäftsführung und hat mehr gesehen als alle anderen.

Der Kampf um den Berliner Weg

Über 4000 Mitglieder hatten sich am Sonntag aufgemacht, um genau diese Entscheidung zu treffen. Im Vorfeld war von einer "Schicksalswahl" die Rede. Es gehe um das Vermächtnis von Bernstein, der in seiner kurzen Amtszeit von Sommer 2022 bis zu seinem Tod im Januar 2024 dem Klub neues Leben eingehaucht hatte. Nicht mit sportlichem Erfolg, denn Hertha war im Sommer 2023 abgestiegen. Und nicht mit wirtschaftlichem Erfolg, denn die angehäuften finanziellen Probleme waren größer als das höchste Hochhaus in der Hauptstadt.

Es waren Bernsteins Visionen für den Fußball, die er unter dem Begriff "Berliner Weg" subsumierte und die den Verein den Investoren entreißen und zurück zu den Mitgliedern bringen sollten. Das ist, soviel lässt sich bereits festhalten, gelungen. Bernstein hatte den Klub vereint, in dem er ihn aus dem Rennen nahm. Es ging eben nicht mehr nur ums Geld. Obwohl es, weil es nicht da war, immer ein großes Thema war. Obwohl unter Bernstein der Wechsel vom windigen Investor Lars Windhorst zur ebenfalls windigen Investorengruppe 777 erfolgte.

Dafür steht die nie gefährdete Wahl des bisherigen Interims-Präsidenten Drescher, der nach dem Tod Bernsteins im Januar die Geschäfte übernommen hatte. Drescher wirkte in seiner Zeit als Interims-Präsident mehr nach innen und weniger als außen. Bernstein wollte den gesamten Fußball retten, Drescher reicht Berlin. Indem er das machte, rettete er mit seiner Besonnenheit den Verein. Drescher ist Teamplayer. Er nahm die Leute mit. Nur nicht laut. Und so zerriss es den Klub nicht und die, die jetzt im Herbst vor der Wahl an ihm zerrten, konnten ihn jetzt auch nicht zerreißen. Das hat viel mit dem zu tun, was passiert ist.

In den Trümmern des Fußballkapitalismus

Hertha BSC war durch die letzten Jahre gerauscht. Hertha hatte unter dem Investor Windhorst 375 Millionen Euro in einen gigantischen Schuldenberg verwandelt. Hertha hatte sich auf dem Weg vom langjährigen Präsidenten Werner Gegenbauer verabschiedet. Der war nicht nur von Windhorst, sondern auch von den Mitgliedern scharf attackiert worden. Zwischendurch hatte mit Jürgen Klinsmann ein ehemaliger Nationaltrainer den Klub trainiert. In seinen wenigen Wochen vor der Pandemie war der Verein zum Gespött geworden.

Die Klinsmann-Wochen waren der Höhepunkt der an Absurditäten reichen Jahre. Hertha BSC war der selbst ernannte "Big City Club" und die Lachnummer der Nation. Für die, die ihren Verein liebten, weil es nun einmal ihr Verein war, wurden aus Jahren Jahrzehnte. Nach Windhorst, Gegenbauer und Klinsmann war Hertha schlussendlich erschöpft in die 2. Bundesliga abgestiegen und hatte da gerade so die Lizenz erhalten. Der "Big City Club" hatte aufgehört zu existieren. In ganz Deutschland.

Der moderne Fußball mit all den Luftschlössern, Leer- und Lautversprechern hatte den Klub fast zerstört. Die Grundmauern eingerissen. In diesen Trümmern hatten es sich die verbliebenen Mitglieder eingerichtet und immer mehr waren dem Ruf gefolgt. Der Berliner Weg war einer des Wiederaufbaus und Bernstein der redenschwingende Anführer.

Als alle in Berlin glaubten, man sei auf einem guten Weg, starb im Januar Bernstein mit nur 43 Jahren. Wenige Wochen nach Bernsteins Tod verschwand Hertha aus der nationalen Wahrnehmung. Maximal gab es Erstaunen über die erstaunlich hohen Zuschauerzahlen und die weiterhin klare Haltung der Ostkurve. Die war eine der Treiber hinter den letztlich erfolgreichen Protesten im deutschen Fußball gegen den Einstieg eines Investors. Sportlich schlief Hertha in der zweiten Liga und macht das immer noch.

Standing Ovation für Drescher

Der 42-jährige Anwalt Drescher war als kommissarischer Präsident für diesen Weg des Abtauchens verantwortlich. Erst wenige Wochen vor der Wahl war er durch ein Interview in den "11 Freunden" auch überregional in Erscheinung getreten. Ansonsten sah man ihn vor den Spielen in der U-Bahn, zusammen mit anderen Fans. Denn das war seine Sozialisation, und die wollte er nicht aufgeben. "Hertha", sagte Drescher am Sonntag in seiner Wahlrede, "ist den Leuten nicht mehr egal".

Der Klub sei wieder nahbar und greifbar geworden und dafür stehe er. Es waren keine leeren Worte. Wie auch der Kernsatz seiner Rede. "Ein Präsident darf sich nicht nur von seinen Träumen leiten lassen, er muss die Realität im Auge behalten", sagte er und nahm damit vorweg, was seine Gegenkandidaten nicht mitgebracht hatten: ein Gespür für die Notwendigkeiten der Realität.

Chaos herrscht trotzdem immer noch. Aber eben nur auf der Mitgliedsversammlung. Immer wieder nahm die Veranstaltung groteske Züge an. Die Vorstellung der Kandidaten auf das Präsidentenamt führte zu einer gigantischen, über Stunden andauernden Comedyveranstaltung. Dabei hatten die fünf Kandidaten eigentlich nur je fünf Minuten Zeit. Danach aber haben die Mitglieder Fragen und das dauert. Obwohl der Sieg Dreschers schon nach dessen Rede feststand. Der Saal hatte ihm für seine ausgleichende Rede Standing Ovation spendiert.

Der Kandidat Olaf Brandt präsentiert ein Beweisstück.

Der Kandidat Olaf Brandt präsentiert ein Beweisstück.

(Foto: IMAGO/Matthias Koch)

Skurrile bis lächerliche Konkurrenten

Denn die meisten Bewerber zerlegten sich ohnehin in kürzester Zeit selbst. Da spielt der der Reichsbürgerszene zumindest nahestehende Imbiss-Budenbetreiber Olaf Brandt eine fiktive Radioreportage ab. Hertha BSC wird im Jahr 2030 Deutscher Meister. Wenig später stand er mit einer adidas-Hose fuchtelnd auf der Bühne. Die in den Farben der alten Reichskriegsflagge gehaltene Hose war ein Beweisstück. Man könne ihm trauen. Der Saal johlte und zählte die Sekunden bis zum Ende der Rede laut runter.

Bereits vorher hatte der als "Sneaker-Millionär" bekannt gewordene 23-jährige Stepan Timoshin erst symbolisch einen 50-Euro-Schein auf der Bühne verbrannt und dann dem da noch Interims-Präsidenten Drescher offen gedroht. "Fabi, du bist eine Marionette, du musst weg", rief er und frohlockte: "Ich werde die Verantwortlichen schonungslos zur Verantwortung ziehen. Es wird lichterloh brennen." An lichterloh brennenden Feuern hat in Berlin niemand mehr Interesse. "Ick gloob, der Trump hat einen Mini-Trump jeschickt", rief einer. Timoshin war chancenlos.

Neue Hertha gibt nichts auf weiße Umschläge

Wie auch der ehemalige Profi Wolfgang Sidka. Der 70-Jährige zitierte in seiner Rede John F. Kennedy. Er habe im Jahr 1963 "eine unglaubliche Energie" verspürt, sagte er. Aber das ist über 60 Jahre her und die Energie längst nicht mehr da. Der mit einem weißen Kuvert wedelnde Autohändler Uwe Dinnebier versprach dem Verein "50 bis 100 Millionen" von "echten" Unternehmen. Als er nach langen, zähen Minuten das Kuvert mit diesen "echten" Unternehmen öffnete, verbarg sich dahinter heiße Luft. Es sei nur eine erste Recherche gewesen, sagte er. "Ich habe das Gefühl, dass ihr uns und den Verein kaufen wollt. Das wird nicht passieren", sagte ein Mitglied. Dinnebier war erledigt.

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Hertha will das nicht mehr. Hertha macht nicht mehr mit. Eine neue Generation hat sich Hertha zurückgeholt. Es ist eine, die sich gegen jeden Populismus stellt, die sich nicht vom Boulevard treiben lässt und die sich aus dem großen Fußballgeschäft vorerst zurückzieht. Weil ein Fußballverein mehr ist als das Streben nach immer mehr Geld und Erfolg. Beides war Hertha abhandengekommen.

Vier Jahre bleiben Drescher und Co. nun für ihren Berliner Weg, der Hertha BSC von Bernstein freigeschlagen wurde. Der Riese aus der Hauptstadt legt sich jetzt erst einmal schlafen und schöpft neue Energie. "Einfach mal machen", hatte Bernstein immer gesagt und Hertha macht jetzt. Hertha BSC verabschiedet sich vorerst vom modernen Fußball. In vier Jahren wird abgerechnet.

Quelle: ntv.de

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