Fußball

Gelernt auf dem Weg zur EM Löw-Elf bleibt ein Sanatorium für Pflegefälle

Joachim Löw kann nach der durchwachsenen Qualifikation nicht abstreiten, dass ihm auf einigen Postionen die Qualität fehlt.

Joachim Löw kann nach der durchwachsenen Qualifikation nicht abstreiten, dass ihm auf einigen Postionen die Qualität fehlt.

(Foto: imago/Matthias Koch)

Stolpern, hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weiter: Die DFB-Elf fährt als Gruppensieger zur EM. Doch wie beim Pannenflughafen BER werden, je näher der Eröffnungstermin rückt, mehr und mehr Baustellen offenbart.

Die DFB-Elf ist kein BER, aber …

11. Oktober 2014, Warschau: Fußball-Weltmeister Deutschland hat gerade mit 0:2 gegen Polen verloren, und Bundestrainer Joachim Löw sagt: "Es gab mehr einschneidende Veränderungen, als ich mir nach der WM erhofft hatte." Diese Veränderungen, das waren nach über einem Jahrzehnt im DFB-Team die Rücktritte von Per Mertesacker, Miroslav Klose und Kapitän Philipp Lahm. "Das Leben", betonte Löw damals zwar demonstrativ, "ist schöner wie vor der WM."

Nach der gelungenen EM-Quali überwiegt die Freude: Bis Sommer 2016 steht aber noch viel Arbeit auf dem Programm.

Nach der gelungenen EM-Quali überwiegt die Freude: Bis Sommer 2016 steht aber noch viel Arbeit auf dem Programm.

(Foto: imago/Matthias Koch)

Wer den Weltmeistertrainer reden hörte, konnte seine DFB-Elf trotzdem für einen Moment für Deutschlands sportlichen BER halten: Ein Großprojekt mit massiven Statik-, Abstimmungs- und Qualitätsproblemen, das beim endlos verschobenen Zeitpunkt der Fertigstellung längst überholt sein wird. Die oft mühsame, phasenweise brillante und letztlich erfolgreiche EM-Qualifikation hat bewiesen: Löws DFB-Elf hat ein besseres Fundament als der BER. Der Verlust einer tragenden Säule (Lahm) und zweier nicht unwichtiger Stützbalken (Mertesacker, Klose) hat die Statik verändert, das Gebilde aber nicht zum Einsturz gebracht. Lahm hat sich zwar sportlich als unersetzlich erwiesen, mitunter wackelt aber alles bedenklich.

Die Chancen stehen dennoch nicht schlecht, dass der Chefarchitekt Löw seinem DFB-Team bis zum 10. Juni 2016 die nötige Titelreife für den EM-Coup eingemeißelt haben wird. Bis dahin bleibt aber noch Einiges umzubauen und zu justieren, stellte Löw exakt ein Jahr nach der Warschau-Niederlage klar. Am 11. Oktober 2015 sagte er in Leipzig über seinen Seelenzustand: "Zufrieden, dass man die Qualifikation schafft, aber unzufrieden mit den letzten beiden Spielen auf jeden Fall. Das ist nicht unser Standard." Denn eines der zu behebenden Probleme …

Jugend forscht? In Löws Elf derzeit nicht

… zeigte sich auch in Dublin und Leipzig deutlich: Der DFB-Elf fehlt es an Klasse-Nachwuchs. Die Zeiten des personellen Überschwangs sind vorbei, als sich der Bundestrainer vor Alternativen nicht zu retten wusste und die Kaderwahl zur Qual wurde. Nach dem Gewinn des WM-Titels hat das DFB-Team wie erwähnt die Weltstars Lahm, Klose und Mertesacker verloren - und dafür nur Karim Bellarabi, Jonas Hector und Emre Can als dauerhafte Neuzugänge hinzugewonnen. Vor allem auf den Außenpositionen in der Abwehr, wo sich ganz Fußball-Deutschland schon zu Lahms Zeiten nichts sehnlicher als einen Lahm-Klon wünschte, fehlt es weiter an hochklassigen Alternativen. Dass sich auf links der Kölner Hector festgespielt hat, ist ein Qualitätsnachweis für ihn - aber, so harsch das klingen mag, nicht für die Nationalelf.

Die rechte Abwehrseite bleibt weiter das Großlaboratorium von Löw, dort probierte er Antonio Rüdiger, Sebastian Rudy, Can und zuletzt den Dortmunder Matthias Ginter aus. Wirklich zufrieden war er mit keinem Kandidaten, was er nach dem Georgien-Krampf auch deutlich sagte. Mit den Worten: "Ich glaube, dass wir im Moment nicht in der Lage sind, außen mal durchzubrechen", sprach er "ein anderes Problem" seiner Elf abseits der mangelnden Chancenverwertung an und monierte, dass sowohl Hector als auch Ginter "im Prinzip im Verein defensiv geschult sind". Wie er das Problem lösen will, führte Löw nicht aus. Dass er es selber lösen muss, steht fest. Es mangelt ihm einfach an Alternativen.

Schweinsteigers Zeit läuft ab

Noch ist Bastian Schweinsteiger Kapitän der DFB-Elf: Gegen Georgien schaut er nur zu.

Noch ist Bastian Schweinsteiger Kapitän der DFB-Elf: Gegen Georgien schaut er nur zu.

(Foto: imago/Matthias Koch)

Alternativen hat der Bundestrainer dagegen im defensiven Mittelfeld. Dort bemühten sich gegen Irland und Georgien Ilkay Gündogan und Toni Kroos um Tempokontrolle, Spieleröffnung und Absicherung nach hinten. In beiden Spielen machten sie das allerdings nicht besonders beeindruckend. Der Reflex des Hobby-Bundestrainers vor dem Fernseher: Mit Bastian Schweinsteiger wäre alles viel besser gewesen. Nun, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Der Ex-Bayer ist bei Manchester United zwar beliebt, doch unumstrittener Stammspieler ist er nicht. Der 31-Jährige steht seit dem WM-Finale 2014 sinnbildlich für Kampfgeist. Trotz unermüdlicher Attacken der Argentinier rappelte sich er immer wieder auf, rannte, köpfte, grätschte, obwohl sein Körper dies nach normalen medizinischen Maßstäben nicht mehr hätte leisten können.

Und da sind wir auch schon beim zentralen Problem des Noch-DFB-Kapitäns: Sein Körper gestattet ihm immer seltener die ganz großen Momente. Die Defizite in Sachen Tempo sind unübersehbar. Eine Schwäche, die im System Löw gravierend zum Tragen kommt, die gegen die Philosophie des Bundestrainers arbeitet. Und kommen wir an dieser Stelle nochmal zu den Kollegen Kroos und Gündogan zurück. Beide haben diese Schwächen eben nicht. Sie sind bei ihren Vereinen Real Madrid und Borussia Dortmund verantwortlich für das schnelle Spiel in die Spitze. Zwei schwächere Partien in einer zwei Spiele lang kollektiv schwächelnden Mannschaft sind daher keine gute Referenz, um eine ernsthafte Qualitätsdebatte anzufangen. Und selbst wenn; es gibt da ja auch noch ein paar andere Kandidaten, die ihre Arbeit auf der Sechs mit hoher Qualität verrichten können. Da sind der langsam wiedererstarkende Sami Khedira (Juventus Turin), Blackout-Weltmeister Christoph Kramer (Bayer Leverkusen), oder die bei ihren Vereinen mit Lobeshymnen besungenen Youngster Julian Weigl (Borussia Dortmund) und Joshua Kimmich (FC Bayern München).

Mario Gomez darf wieder hoffen

Im WM-Kader 2014 war Sturm-Oldie Miroslav Klose mit seinen 36 Jahren nicht nur der Methusalem im Team, er war auch der einzige amtlich geprüfte Stürmer. Zum Titel reichte es trotzdem. Davor durfte zwar auch Mario Gomez mal ab und zu in der DFB-Elf ran, eine Liebesbeziehung wurde das aber nie. Dessen temporäre, verletzungsbedingt erklärbare Nicht-Nominierung für die WM-Endrunde 2014 schien sich 2015 trotz Kloses Rücktritt zu einer verletzungsunabhängigen Dauer-Ausladung entwickelt zu haben, auch wenn Löw zuletzt treuherzig betonte: "Ich habe Mario nie abgeschrieben. Ich weiß, was er kann, was er für eine Qualität hat, wenn er gut in Form ist und Selbstbewusstsein hat."

Verwendung hat Löw für einen klassischen Mittelstürmer, wie Gomez einer ist, dennoch nicht, der Grund ist simpel: Auch ohne Klose und Gomez schießt die DFB-Elf weiter Tore. Ihr Angriffsspiel setzt nicht auf einen Fixpunkt, sondern auf Ballzirkulation, Positionswechsel und Vollendung fein herausgespielter Chancen statt rustikaler Vollstreckung im Sturmzentrum. Perfekt zelebriert wurde das gegen Polen und Schottland im September, wo der inzwischen auch außerhalb von WMs verlässliche Torjäger Thomas Müller (insgesamt neun Quali-Tore) und Mario Götze doppelt trafen. Die Spiele gegen Irland und Georgien dürften allerdings auch bei Löw Zweifel wecken, ob die Variante des ins Tor rotierten Balles als alleiniges Allheilmittel taugt. Sein Team erspielte sich zwar unzählige Chancen, machte daraus aber nur zwei mickrige Törchen, eines davon per Elfmeter. Löw verwies angesichts der prompten Rufe nach einer echten Nr. 9 zwar in Dublin und Leipzig darauf, dass auch ein Sturmbrecher den Ball gegen wuchtige irisch-georgische Abwehrspieler nicht garantiert ins Tor köpfen würde. Den Einwand von Ex-Nationalkeeper Jens Lehmann, dass ein Sturmbrecher im Vergleich zu den aktuellen DFB-Sturmzwergen aber wenigstens die theoretische Chance auf ein Kopfballtor habe, ließ er jedoch gelten. Mario Gomez sollte noch keinen Sommerurlaub für 2016 buchen.

EM-Quali ist doch kein Selbstläufer

Von Noch-Uefa-Präsident Michel Platini dürften einst vier Dinge in Erinnerung bleiben: Erstens ein Millionenhonorar, das er sich von Fifa-Boss Joseph Blatter mit neunjähriger Verspätung auszahlen ließ. Zweitens die Verweigerung von Torlinientechnik in Uefa-Wettbewerben. Drittens seine offene Unterstützung für Katar als WM-Gastgeber 2022. Und viertens die Aufblähung der Fußball-EM ab 2016 als Einlösung von Wahlversprechen an jene Fußballverbände, die ihn einst zum Uefa-Boss machten. Fans und Trainer fürchten dadurch eine Verwässerung der Qualität im Turnier, wenn plötzlich auch Österreich mitspielen darf. Und sie fürchteten einen dramatischen Spannungsabfall in der Qualifikation, immerhin erhält jetzt fast jeder zweite Teilnehmer ein EM-Ticket. Punkt eins wird sich erst Mitte Juli 2016 faktengestützt beantworten lassen, wenn die erste 24er EM absolviert ist. Punkt zwei darf bereits als widerlegt gelten. Einerseits nutzten zwar Fußballzwerge wie Albanien, Wales, Nordirland und Österreich die Chance zur erstmaligen Qualifikation. Andererseits war es in vielen der neun Qualifikationsgruppen bis zum Schluss höchstspannend. Selbst Weltmeister Deutschland musste bis zum letzten Spieltag um die direkte Qualifikation zittern. Die Krone setzten dem Ganzen die Niederländer auf. Die schicken sich in Gruppe A an, das Unmögliche möglich zu machen - und als WM-Dritter in einer Sechsergruppe sogar Rang drei und damit den Playoff-Platz zu verpassen. Statt ödestmöglicher Quali-Langeweile droht ihnen ein blödestmöglicher EM-K.o.

Was Löw von Legat lernen kann...

Natürlich: Jeder Spieler, der in Brasilien im Sommer 2014 dabei war, hatte seinen Anteil am WM-Triumph. Bundestrainer Joachim Löw wurde nicht müde, dies zu betonen. Und wer Joachim Löw ein bisschen beobachtet, der weiß, dass er verdiente Spieler nicht gerne hängen lässt. Doch seit dem erfolgreich zu Ende gespielten Sommermärchen agiert der Bundestrainer plötzlich mit zweierlei Maß.

Während die Dortmunder Kevin Großkreutz und Erik Durm ihre Nationalelf-Karrieren mit Abflug aus Rio de Janeiro als beendet betrachten dürfen, schleppt Löw den Wolfsburger André Schürrle mit durch und hielt ebenso am lange schwächelnden Lukas Podolski fest, obwohl diese sportlich in ihren Vereinen nur äußerst spärlich Argumente für eine Nominierung ablieferten. Und im Herbst 2015 kommt ein neuer Pflegefall hinzu: Marco Reus. Sowohl bei Borussia Dortmund, als auch im Trikot der deutschen Nationalelf wirken seine Auftritte derzeit wenig inspirierend. Gegen Georgien machte er eine Halbzeit lang alles verkehrt, was man als Offensivkraft verkehrt machen kann - danach fiel er glücklicherweise nicht mehr auf. Dabei war ihm das Bemühen, etwas Gutes zu schaffen, definitiv nicht abzuschreiben. Was übrigens auch für Schürrle oder natürlich immer auch für Podolski gilt. Doch was nützt das größte Engagement, wenn das Selbstvertrauen fehlt. Wer nach dem Höchsten strebt, der braucht Mut und Überzeugung. Oder um es mit Thorsten Legat zu sagen: "Ich brauch jetzt Kerle mit Eier inne Buxe."

Quelle: ntv.de

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